Totenmond
einem Sofa und Mäxchen in der Mitte. Im Hintergrund stand ein mit Lametta behängter Christbaum, unter dem Geschenke lagen. Mäxchen trug eine Nikolausmütze. Wie auf jeder Aufnahme starrte er teilnahmslos aus seinen Glasaugen an der Kamera vorbei. Mäxchen war eine lebensechte Puppe von der Größe eines Kleinkinds – eine ähnliche wie die, die auf dem Sessel neben Schneider in Hirschlederhosen hockte.
Die nächsten Bilder zeigten dann einen echten Jungen – Harald. Zunächst sah Alex ein professionelles Porträtfoto, vielleicht von einem Schulfotografen geschossen. Harald sah darauf erstaunlich erwachsen aus. Sein Blick war kalt. Das Gesicht schmal. Die Haare lockig. Ein arroganter Zug umspielte den Mund. Wie würde er heute aussehen?
Auf jeder der folgenden Aufnahmen stand er stets etwas entfernt von dem Ehepaar und Mäxchen. Lediglich eines zeigte ihn allein mit seinem »Bruder« in der Badewanne sitzend. Harald mochte auf dieser Aufnahme vielleicht sieben oder acht Jahre alt gewesen sein. Er lächelte in die Kamera. Aber seine Augen weinten ohne Tränen. Dann endete das Familienalbum abrupt. Zwischen der Rückseite und dem Einband lagen zusammengefaltet die Adoptionsdokumente.
Alex gab einen erstickten Laut von sich.
»Von später habe ich keine Bilder mehr eingeklebt«, erklärte Ingelore Frentzen. »Er hat immer alles kaputt gemacht, und der Fernseher geht nun auch nicht mehr. Haben Sie ihn wieder repariert bekommen?«
»So gut wie neu«, sagte Schneider.
Ingelore Frentzen schlurfte um das Sofa herum und lächelte in sich hinein. »Sehen Sie auch so gerne den Stadl?«, fragte sie Schneider.
»Aber immer.« Das war nicht einmal gelogen, wusste Alex. Sie fragte: »Ist Harald nach seinem Krankenhausaufenthalt denn wieder nach Hause gekommen?«
Ingelore Frentzen schüttelte den Kopf. »Ich hab es Ihnen doch gesagt: Das Jugendamt hat ihn abgeholt. Sie haben ihn wohl ins Gefängnis gebracht oder in eine Besserungsanstalt. Ich war froh, dass er weg war. Immer hat er alles kaputt gemacht. Den Teufel hatte er im Leib, damit hatte Rudi recht. Ohne ihn wäre das mit Mäxchen niemals geschehen. Ich«, ihre Stimme brach, »habe den kleinen Mann im Garten begraben.«
Alex’ Gedanken fuhren Karussell. Es schien unfassbar, dass man ein Kind zur Adoption in eine solche Familie gegeben hatte. Aber vielleicht war nicht bemerkt worden, wie merkwürdig die Frentzens waren. Wahrscheinlich waren dann bei Haralds Klinikaufenthalt einige Dinge aufgefallen – Misshandlungen, die die Behörden dazu brachten, das Kind sofort aus der Familie zu nehmen. Alex sprang vom Sofa auf. Sie würde es keine weitere Minute mehr hier drin aushalten. Und sie hatten genug erfahren.
»Frau Frentzen«, sagte sie, um Fassung bemüht, »es ist sehr wichtig, dass wir Harald finden. Wir würden sehr gerne das Fotoalbum mitnehmen, um von den Bildern, die Harald zeigen, Kopien anzufertigen.« Alex spürte Schneiders fragenden Blick, redete aber unbeirrt weiter. »Ich verspreche Ihnen, dass Sie es so schnell wie möglich zurückerhalten werden und dass wir gut darauf achtgeben.«
Ingelore Frentzen schien einen Moment nachzudenken. »Müssen Sie den Fernseher denn auch mitnehmen?«, fragte sie und klang verzweifelt. »Was soll ich denn dann abends machen?«
»Seien Sie unbesorgt«, sagte Alex. »Wir bekommen das schon wieder hin, und wir bringen Ihnen das Album zurück, wenn der Fernseher wieder heile ist.«
Ingelore Frentzen nickte. Zögernd reichte sie Alex das Album. »Hat Harald etwas Schlimmes getan?«
»Das wissen wir noch nicht.«
»Wenn Sie ihn finden, müssen Sie ihn sehr hart bestrafen. Immer hat er alles kaputt gemacht, und jetzt ist sogar der Fernseher hin.«
»Natürlich«, antwortete Alex und klemmte sich das Album mit zitternden Fingern unter den Arm.
Schneider stand auf und tätschelte der Puppe mit den Seppelhosen spielerisch den Kopf. »Liest wohl gerne Comics, was, der kleine Racker?« Schneider nahm das neben der Puppe auf der Lehne liegende Heft in die Hand und blätterte darin.
»Ja«, bestätigte Ingelore Frentzen. Ihre Miene erhellte sich. »Das ist noch ein altes Heft von Mäxchen. Der Harald hat sie ihm immer weggenommen und nachts unter der Bettdecke mit der Taschenlampe gelesen. Immer und immer wieder.«
»Mhm«, machte Schneider. Sein Gesicht war blasser geworden. Er zeigte Alex das Cover des abgegriffenen Heftes. Es zeigte einen muskulösen Supermann, der mit Angreifern rang, die in Tierfelle gekleidet
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