Totenmond
Täter ist, dann ist Mia vielleicht im Luisenhof. Aber wie Veronika schon sagte: Es gibt kein Durchkommen zurzeit. Und den Einsatz von Hubschraubern können wir im Moment wohl auch vergessen.«
»Na, hoffentlich schaffen es die Kollegen noch schnell zurück in die Behörde und erreichen zeitnah jemanden vom Jugendamt, um denen in den Hintern zu treten. Ich habe nämlich so das Gefühl, dass unser Leopard diesmal nicht auf den nächsten Vollmond warten wird, bis er jemanden tötet – in diesem Fall Mia.«
Die Rot zeigende Ampel an der Kreuzung schälte sich wie aus dem Nichts. Die Heckleuchten eines Lieferwagens und die gewaltige Schaufel eines orangefarbenen Streufahrzeuges ebenfalls. Sogleich ratterte das ABS des Vectra, aber die Bremsen taten auf der glatten Fahrbahn keinerlei Wirkung. Sie sorgten nur dafür, dass der Wagen sich um die eigene Achse drehte.
Schneider fluchte. Alex schrie. Um sie herum verwirbelte die Welt in Schlieren aus Rot und Weiß. Ein heftiger Ruck raubte ihr die Luft. Der Sicherheitsgurt schnitt ihr in die Brust. Etwas explodierte in ihr Gesicht und schürfte ihre Wangen auf. Dann wurde sie an das Seitenfenster geschleudert und spürte einen heftigen Schmerz, als ihr Kopf gegen die Scheibe schlug. Schließlich wurde aus Oben Unten und aus Unten Oben.
81.
A lex vermochte nicht einzuschätzen, wie viel Zeit vergangen war. Sekunden? Minuten? Im Inneren des Wagens roch es nach verbranntem Gummi. Die Ventile tickten. Aus dem Motorraum zischte es. Draußen jaulte der Sturm.
Ihr Kopf wollte platzen. Sie bekam kaum Luft. Etwas Warmes lief ihr über die Stirn – aber wie in einem surrealen Traum in die verkehrte Richtung. Langsam begriff sie, dass der Wagen auf dem Dach liegen musste, weswegen der Druck in ihrer Stirn so unerträglich war, und dass sie deswegen so schlecht Luft bekam, weil sie immer noch in den Sicherheitsgurten hing.
Alex legte den Kopf in den Nacken. Sie erkannte eine rote Pfütze in dem samtigen Grau der Innenverkleidung des Fahrzeugdachs und blutige Schlieren auf dem rauhen Belag des Airbags. Ihr Blut. Keuchend tastete sie nach dem Verschlusssystem und hoffte, dass der Gurt sich auch lösen würde, wenn ihr volles Gewicht an ihm lastete. Ein lautes Klicken und ein heftiger Schlag auf den Kopf gaben ihr die Antwort, als sie aus dem Sitz fiel und auf dem Himmel des Vectra zum Liegen kam.
Mit dem Atmen wurde es nun schlagartig besser. Auch der Druck im Kopf wich – nur ein dumpfes Klopfen blieb zurück. Alex wischte sich das Blut aus den Augenwinkeln, das aus einer Platzwunde am Kinn sickerte und ihr quer über das Gesicht gelaufen war. Dann fiel ihr Blick auf Schneider, der regungslos und mit hochrotem Kopf im Sicherheitsgurt hing und vom Airbag am Lenkrad in die Rückenlehne gepresst wurde.
»Rolf?«
Keine Antwort. Nur das Klicken und Zischen aus dem Motorraum. Und Geräusche wie durch Watte von draußen. Schneiders Gesichtsfarbe wechselte ins Bläuliche – ein eindeutiges Anzeichen dafür, dass er zu wenig Sauerstoff bekam und nicht atmen konnte. Zwar hieß es, dass man Unfallopfer so lange in ihrer Position lassen sollte, bis man sichergehen konnte, dass weder eine Verletzung der Wirbelsäule vorlag noch sich Plastik- oder Metallteile in den Körper gebohrt hatten und beim unbedachten Herausziehen innere Blutungen auslösen konnten. Aber war Ersticken die bessere Wahl?
Alex schob sich, auf dem Rücken liegend, etwas nach vorne und suchte nach dem orangefarbenen Knopf an Schneiders Sicherheitsgurt. Sie streckte beide Arme nach oben, um ihn auszulösen, und nahm sich vor, blitzschnell zur Seite zu rollen, damit nicht einhundert Kilo Rolf Schneider ungebremst auf sie herabfallen würden. Der Gurt löste sich, und Schneider rutschte langsam zwischen dem Airbag und der Rücklehne aus dem Sitz. So langsam, dass Alex noch seinen Nacken stützen konnte, damit er sich nicht das Genick brach. Schneider sackte wie ein nasser Sack herab und kam auf der Seite zum Liegen. Instinktiv fühlte Alex nach seinem Puls und atmete auf, als sie ihn spürte. Doch Rolf blieb ohne Bewusstsein.
Licht drang ins Innere. Als Alex hinsah, erkannte sie, dass das Seitenfester freigekratzt wurde. Dahinter erschien das Gesicht eines Mannes mit Pudelmütze in der leuchtend orangefarbenen Bekleidung des Winterdienstes. Ein zweites Gesicht war zu erkennen – sowie der hölzerne Stiel einer Schaufel. Mit einem Ruck öffnete sich die Tür. Frische, eiskalte Luft strömte herein.
»Können Sie
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