Totenmond
Gewalt hat, aber ich glaube nicht, dass er ihr etwas tun wird. Er begeht seine Taten nur bei Vollmond. Er hat gerade gestern erst zugeschlagen. Ich glaube, er will nicht Mia, er …«
»Warum?« Jans Stimme klang wie das Jaulen des Windes. »Warum Mia? Was will er mit Mia?«
»Er will nicht Mia, Jan.« Alex’ Unterlippe bebte. Eine Träne rann ihr aus dem Augenwinkel. Sie wischte sie mit dem Handballen fort. »Ich glaube, er will mich.«
80.
D ie Scheibenwischer arbeiteten im Akkord und schaufelten den Schnee von der Windschutzscheibe. Die Straße war kaum noch von den Feldern links und rechts der Fahrbahn zu unterscheiden. Schneider war etwas näher ans Lenkrad herangerückt und starrte konzentriert nach vorne, wo das allumfassende Weiß des späten Nachmittags ineinanderfloss.
»Scheißdreck«, sagte er und steckte sich mit dem Zigarettenanzünder eine neue Zigarette an.
Alex fror und schwitzte gleichzeitig. Gerade hatte Alex Reineking angerufen, der die Nachricht über Mias Verschwinden erschüttert zur Kenntnis genommen und zugesagt hatte, sofort eine Streife zu Jan zu schicken und selbst dorthin zu fahren – sofern bei den Straßenverhältnissen in der Stadt überhaupt noch ein Durchkommen möglich war. Schließlich hatte Alex Veronika erreicht, die zusammen mit zwei weiteren Beamten auf dem Weg zum Luisenhof gewesen war, um dort Potthast aufzusuchen und zu vernehmen. Auf halbem Weg waren sie jedoch umgekehrt. Es war schlicht zu gefährlich gewesen, die steilen Serpentinen zu der Jugendeinrichtung ohne Schneeketten und Allradantrieb hinaufzufahren, hatte Veronika erklärt. Gefasst hatte Alex ihr die Geschehnisse rund um Mia geschildert – und betont, dass dringend festgestellt werden müsse, welchen Namen Harald Frentzen angenommen hatte. Nur, wenn sie herausfinden würden, wer Frentzen war, gab es eine Chance, Mia zu finden.
»Dieser verdammte perverse Dreckskerl!«
Alex zuckte kurz zusammen, als Schneider mit der Faust auf das Lenkrad schlug, worauf etwas Asche von seiner Zigarette abfiel und der Vectra eine schlingernde Bewegung machte. Stotternd meldete sich das ABS. Alex hielt sich an der Seitenverkleidung fest, als das Heck des Wagens auszubrechen drohte, sich dann genauso plötzlich wieder fing und in die Spur zurückschnurrte.
»Pass auf die Straße auf, Rolf.«
Schneider knurrte etwas Unverständliches, drückte die Zigarette aus und starrte wieder nach vorne. »Bei dem Wetter brauchen wir locker eine Stunde zurück bis nach Lemfeld – wenn wir es überhaupt bis dorthin schaffen.«
Alex blickte stumm aus der Seitenscheibe. Durch einen Nebel aus Milliarden von Schneeflocken sah sie blasse Wälder vorbeigleiten. Nicht mehr lange, dann würde die Dunkelheit herabsinken. Die Zeit zerrann ihr zwischen den Fingern.
Schneider räusperte sich. »Also fassen wir alles noch mal zusammen. Vielleicht haben wir etwas übersehen. Erzähl mir die Geschichte, Alex.«
Alex strich nachdenklich mit der Hand über das Familienalbum, das auf ihrem Schoß lag. Alles hing miteinander zusammen. Es war ein Rätsel – ein verworrenes Puzzle, das Alex lösen musste, um Mia zu finden. Sie blickte wieder auf. In ihrem Kopf hämmerte es.
»Die Zwillingsbrüder Harald und Elmar«, begann sie, »werden von ihrer leiblichen Mutter zur Adoption freigegeben. Eine ungewollte Schwangerschaft vielleicht, die Gründe können vielfältig sein. Die Kinder leben im Luisenhof und kommen in Pflegefamilien, von denen sie später adoptiert werden – Elmar von der Familie Hankemeier, Harald von der Familie Frentzen. Elmar hat Glück. Seine Familie ist angesehen und wohlhabend. Harald hat Pech, was wohl niemand ahnen konnte. Denn wären die Frentzens immer schon auffällig und merkwürdig gewesen, hätte man sie kein Kind adoptieren lassen. Ingelore Frentzen ist psychisch labil und kompensiert ihre Kinderlosigkeit jahrelang mit einer Puppe namens Mäxchen. Ihr Mann hat das kranke Spiel mitgemacht – und das wird nun auch von Harald erwartet.«
Erneut strich Alex über das Album auf ihrem Schoß. »Unglaublich ist das«, hörte sie Schneider murmeln. »Ich habe wirklich schon viel erlebt, Alex, aber das schlägt dem Fass den Boden aus.«
»Harald ist ein Kind zweiter Klasse«, fuhr Alex fort. »Er entwickelt sich nicht so, wie die Frentzens es gerne hätten – denn er möchte sich benehmen wie ein ganz normales Kind. Er macht Unordnung, er gibt Widerworte, ist auch mal frech und unbequem. Mäxchen macht aber keine
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