Totenmond
Schließlich meldete sich eine krächzende Männerstimme.
»Ja?«
»Alex Stietencron, Dachgeschoss. Tut mir leid, mir ist die Tür zugefallen, und mein Schlüssel …«
Der Türöffner summte.
Schlotternd betrat Alex den Hausflur, fluchte über sich selbst und ging die Treppen hinauf. Vor der Wohnungstür im ersten Stock stand Artur Jäger und musterte Alex durch die dicken Gläser einer schwarzen Nerd-Brille. Sein Mund stand offen. Jäger mochte Mitte zwanzig sein und sah mit seinem Backenbart aus, als sei er direkt aus einem Siebziger-Jahre-Tatort gepurzelt, was wohl gerade besonders trendy war. Er trug eine olivfarbene Cargohose und dazu ein saftgelbes Longshirt mit »Jägermeister«-Aufdruck. Soweit Alex wusste, arbeitete er in einer Schlachterei und gehörte einem World-of-Warcraft-Clan an. Jedenfalls hatte er davon mal im Treppenhaus gesprochen. Das war wohl auch der Grund, warum er noch ein Headset trug. Wahrscheinlich war er mitten in einem Raid aufgesprungen und zur Tür gehastet.
»Danke. Es tut mir leid«, sagte sie.
Jäger starrte auf die Glock in Alex’ Händen. Sie ließ sie rasch wieder in der Jackentasche verschwinden.
»Alles klar bei dir?«, fragte er heiser.
Er musste wer weiß was denken. Sie um diese Zeit in diesem Aufzug mit einer Waffe. Super. Alex nickte mit einem entschuldigenden Lachen. »Sieht schlimmer aus, als es ist.«
»Hm. Okay. Falls deine Tür oben auch zugefallen ist, kannste ja runterkommen. Dann rufen wir einen Schlüsseldienst an.« Er starrte sie immer noch so an, als sei ihm gerade Lara Croft persönlich erschienen.
»Klar«, nickte Alex lächelnd und dachte: Das fehlt mir noch, allein mit Artur in seiner Bude. Sie spürte, dass er ihr nachsah, während sie die Stufen hochstapfte. »Ach, und falls du Silvester noch nichts vorhast«, rief Jäger, »also, wir machen da eine kleine Party, vielleicht hast du Lust!«
»Ich denke drüber nach«, rief Alex zurück.
Ein plötzliches Geräusch ließ sie auf den letzten Treppenstufen zusammenzucken. Doch da war nur Hannibal, der sie fragend ansah und schließlich mit einem »Mrrrrrrrr« weglief und sich blitzschnell wieder ins Innere verzog. Gott sei Dank, dachte Alex, war die Wohnungstür nicht zugefallen.
Drinnen zog sie sich mit zitternden Händen die Jacke aus, nahm die Glock aus der Tasche und legte sie zurück. Ihr wurde schlecht und schwindelig, was nicht von der plötzlichen Wärme in der Wohnung herrührte. Es hatte damit zu tun, dass die Risse im Eispanzer nun regelrecht klafften und die Angst freie Bahn hatte. Alex hielt sich an der Garderobe fest, schloss die Augen und hatte das Gefühl, in ein tiefes Loch zu fallen.
Ihr Handy klingelte. Finja vermeldete, dass ihnen niemand aufgefallen sei. Alex hörte die Worte wie durch Watte, bedankte sich und dachte: Trotz allem – der Mann war da gewesen. Sie hatte ihn sich nicht eingebildet. Dann tastete sie sich an der Wand entlang bis ins Badezimmer, um sich zu übergeben.
31.
H allo, Martin.« Alex klang heiser, was an der Übersäuerung ihres Magens und der gereizten Speiseröhre lag.
»Hallo, Alex«, antwortete Martin und lächelte matt.
Alex atmete scharf ein. Warum war es immer so unangenehm, einem Ex-Partner gegenüberzustehen? Jemandem, mit dem man ein Stück des Weges gemeinsam gegangen war, mit dem man außer Intimitäten auch Gefühle und Gedanken geteilt hatte, mit dem man einmal eins gewesen war, und …
Schneider brach das betretene Schweigen mit einem Räuspern. Eben im Wagen hatte er sich nach Alex’ Befinden erkundigt, weil er natürlich von der Personenfahndung von gestern erfahren hatte. Einer Fahndung, die ohne jedes Ergebnis verlaufen war.
Schneider sagte: »Können wir reingehen? Mir ist kalt.«
»Aber natürlich«, sagte Martin, der in abgenutzten Jeans und Sportsakko nichts mit dem Klischeebild von einem Stadtarchiv-Leiter gemein hatte. Alex wusste, dass er wie sie lange Jahre aktiver Triathlet gewesen war und noch heute jeden Tag mit dem Fahrrad zur Arbeit fuhr. Er trug seine Haare genauso kurz wie den ergrauten Dreitagebart und entblößte beim Grinsen eine charmante Zahnlücke. Er öffnete die Tür. Schneider ging sofort rein. Alex blieb einen Moment neben Martin stehen.
»Martin. Es tut mir leid, dass ich mich so lange nicht bei dir gemeldet habe und nur anrufe, weil ich etwas von dir will.«
Er nickte, sagte aber nichts.
»Ich dachte …« Alex zögerte. »Ich dachte, vielleicht ist es besser, wenn wir etwas Abstand …« Sie
Weitere Kostenlose Bücher