Totenmond
zuckte mit den Schultern.
»Schon okay«, antwortete Martin. Doch der Ausdruck in seinen Augen ließ Alex zweifeln.
Das Stadtarchiv befand sich im spätgotischen Bau eines früheren Klosters aus dem sechzehnten Jahrhundert. An den mit dunklem Holz verkleideten Wänden in Martins Büro hingen Fotos, die ihn auf dem Rennrad auf dem Gipfel des Mont Ventoux in der Provence und in den Wellen des Pazifiks beim Iron-Man-Wettbewerb auf Hawaii zeigten. Es roch nach einer Mischung aus Staub und Möbelpolitur.
»Schon besser«, brummte Schneider, ließ sich in einen Sessel fallen, öffnete den Blouson und starrte aus dem bleiverglasten Schmuckfenster, durch das buntes Licht hereinfiel.
»Wie kann das Stadtarchiv der Kripo behilflich sein?«, fragte Martin. Er ging zu einem Beistelltisch. Dort stand eine Pad-Kaffeemaschine.
»Es geht um laufende Ermittlungen«, erklärte Alex und machte eine abwehrende Geste, während Schneider nickte. »Immer noch dieses Pad-Gebräu, Martin.«
»… und immer noch dieses pauschale Abwiegeln, wenn man nach Gründen fragt.« Martin warf Alex einen Blick zu. Er schmunzelte, wobei er etwas traurig aussah, und stellte für Schneider einen Kaffee an. Die Maschine fauchte und gluckste.
Alex verkniff sich eine Antwort und sagte: »Wir haben einige Fragen zur Geschichte der alten Ziegelei und der Schliemannschen Möbelwerke.«
»Aha? Und was genau? Es gibt so einige Arbeiten über die Lemfelder Industriegeschichte, die sich mit Schliemann und Kröger befassen. Eine stammt von mir.« Martin kam mit einem Kaffee zurück und stellte ihn Schneider hin, der sich mit einem Nicken bedankte.
»Kröger?«, hakte Alex nach.
»Ja, die Ziegelei. Adolf Kröger hat sie Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts gegründet. Das Zieglerwesen war früher ein industrieller Schwerpunkt in Lemfeld. Der Ortsname sagt es ja schon, Lehm und Feld kommen darin vor.«
»Interessant«, sagte Alex. »Kannst du uns aus dem Stand heraus etwas darüber berichten? Wenn uns etwas auffällt, fragen wir nach.«
»Okay.« Ruppel verschränkte die Arme, blickte an die mit Holzintarsien ornamentierte Decke und begann zu erzählen. »In den Siebzigern gingen die Lehmvorkommen zur Neige, und die Konkurrenz wurde immer härter – Ziegel konnten an anderer Stelle oder in Übersee günstiger hergestellt werden. Von der Entwicklung wurde Krögers Unternehmen überrannt und schloss in den achtziger Jahren. Seither steht das Areal leer. Für das Aus gab es neben wirtschaftlichen jedoch auch noch andere Gründe. Der alte Kröger hatte das Familienunternehmen mit fester Hand geführt. Sein Sohn baute es nach dem Krieg aus. Der Enkel fuhr es schließlich vor die Wand. Rainer Kröger galt als Lebemann. Er soll große Teile des Familienvermögens verjubelt haben.«
Alex zog ihr Notizbuch hervor und schrieb sich einige Stichpunkte auf.
»Rainer Kröger ist 1979 tragisch ums Leben gekommen«, fuhr Martin fort. »Seine Frau Henriette erbte das Unternehmen, konnte und wollte es alleine aber nicht führen. Sie verkaufte, verschwand aus Lemfeld und zog in eine Villa am Bodensee, wo sie sich später das Leben genommen hat. Sie hat wohl den Tod ihres Mannes nicht verkraftet – und alles Weitere, was in dem Zusammenhang öffentlich geworden war …«
»Wie ist er gestorben?«, fragte Schneider und schlürfte an seinem Kaffee.
Ruppel sagte: »Das ist nie wirklich geklärt worden. Oder in Ihrer Sprache: ein cold case. «
»Im Fernsehen vielleicht.«
Ruppel zuckte die Schultern. »Es wäre auch für uns Historiker interessant, Verlässliches über die Umstände und das tragische Ende der Kröger-Dynastie zu erfahren. Man weiß lediglich, dass Rainer Kröger in der Gegend von Marbella nach einer Auseinandersetzung in einem Fluss tot aufgefunden worden ist – erschossen. Sein Mörder entkam.«
Erschossen von einem Flüchtigen, dachte Alex. Verloren im Fluss. Ein verzweifelter Kampf. Fortgetragen vom Schatten des Mondlichts. Der ermordete Kröger. Seine verzweifelte Frau. Die Verbindung zwischen der Geschichte des Liedes und der des Tatorts. Es passte zu gut.
»Es gibt einige Gerüchte«, hörte Alex Martins Worte wie durch Watte, »und diese Gerüchte besagen, dass Kröger schwul gewesen und im Streit von einem Callboy oder Lover ermordet worden sein soll.« Dann schwieg er und sah Alex an. Ihm war nicht entgangen, dass sie Schneider einen vielsagenden Blick zugeworfen und dieser mit einem ebensolchen geantwortet hatte. »War etwas Brauchbares
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