Totenmond
gepfiffen hatte, dessen Melodie kein Zufall sein konnte. Alex gab ihnen eine vage Personenbeschreibung: zwischen eins siebzig und eins neunzig groß, dunkel gekleidet, Kopfbedeckung. Eine Beschreibung, die im Winter auf mindestens drei Viertel der männlichen Lemfelder Bevölkerung im Alter zwischen achtzehn und achtzig Jahren zutraf.
Danach sah Finja noch besorgter aus. Sehr viel besorgter.
Leise sagte sie: »Bist du eigentlich noch zu retten? Da steht jemand vor deinem Haus, den du für den Killer hältst, und du rennst dem hinterher?«
Alex fröstelte. Nicht der Kälte wegen. Sondern weil ihr gerade klarwurde, was sie getan hatte. Weil die Angst sich nun ihren Weg brach wie Wasser durch einen schmelzenden Eispanzer. Sie spürte das Gewicht der Glock in ihrer Tasche, aber natürlich konnte Alex kein Wort über die Waffe verlieren. Und auch nicht erklären, dass es sich in gewisser Weise wie ein Befreiungsschlag angefühlt hatte, den Mann zu verfolgen. Raus aus der Opferrolle, rein in die des Jägers. Es hätte enorme Probleme gegeben, wenn Alex von der Waffe Gebrauch gemacht und beispielsweise Warnschüsse abgegeben hätte. Wenngleich diese gegenüber den Problemen zu vernachlässigen waren, in die Alex ebenso hätte geraten können. Alleine mit einem Serienkiller in einem Labyrinth aus Eis und Schnee – das hätte fürchterlich schiefgehen können. Ganz schrecklich schief.
Aber das alles sagte sie nicht. Sie stammelte nur: »Ich … Ich weiß auch nicht. Da war dieser Mann, und …« Sie machte eine unbestimmte Geste. »Ich konnte ihn doch nicht laufenlassen.«
Finja starrte Alex an und schüttelte den Kopf. »Dann bleibst du gefälligst da oben, verrammelst die Türen und rufst Verstärkung.«
Alex schluckte schwer. Zuckte mit den Achseln.
Finja gab ein genervtes Geräusch von sich. »So ein Mist. Ausgerechnet in dem Moment, wo wir mal zehn Minuten weg sind.«
»Vielleicht gerade in dem Moment, Finja. Vielleicht hat er die Gunst der Stunde genutzt.«
»Und du bist dir sicher, dass das der Irre war, der dich verfolgt?«
»Ich will es nicht ausschließen. Ja, ich hatte das Gefühl … Kann aber auch sein, dass ich inzwischen etwas überempfindlich bin.«
»Wir werden mal nachsehen.« Finja stellte ihren Milchshake im Fußraum ab, öffnete die Tür und ließ das Seitenfenster wieder hochsurren. Sie zog die Jacke zu. Jürgen gab derweil am Funkgerät eine Personenfahndung heraus und Alex’ vage Beschreibung durch. In wenigen Minuten würde die Stadt voll von Streifenwagen sein. Dann stieg Jürgen ebenfalls aus.
Alex sagte zu Finja: »Vielleicht hältst du mich für hysterisch …«
»Nein. Tue ich nicht.«
Nein, dachte Alex. Finja vielleicht nicht. Andere womöglich schon. Alle, die jetzt nach einem dunkel gekleideten Mann suchen mussten und damit ungefähr jeden in Verdacht ziehen würden, der heute Abend noch draußen unterwegs war. Und diese anderen könnten außerdem für jede Menge Ärger sorgen, weil Finja und Jürgen ihren Standort verlassen hatten – wenn auch nur kurz.
Alex fasste sich an die Stirn. »Vielleicht sollte das in keinem Bericht auftauchen, dass ich … Also, dass ich hier draußen …«
Finja nickte.
»Vielleicht«, redete Alex weiter, »sollten wir auch keine Burger und Milchshakes erwähnen – sondern nur sagen, dass ihr gerade eine Routinerunde um den Block gefahren seid. Ich habe aus dem Fenster eine Wahrnehmung gemacht. Ihr habt darauf reagiert.«
Finja nickte weiter. »Verstehe. So machen wir das.«
»Okay.« Alex rang sich ein Lächeln ab.
Finja und Jürgen schlossen den Wagen ab. Jürgen schaltete sein Handfunkgerät ein. Dann machten sich beide auf den Weg in die Gasse.
Alex ging zurück zum Haus. Mit sinkendem Adrenalinspiegel meldete sich nun die Kälte: Alex trug bloß ein T-Shirt unter der Jacke. Es hatte wieder begonnen zu schneien. Der Schnee würde alle Spuren auf dem Spielplatz verdecken. Sie lief bibbernd und zähneklappernd über die Straße, ging zurück zur Haustür, nicht, ohne sich noch einmal umzusehen. Sie seufzte und wollte die Tür öffnen.
Es ging nicht. Natürlich nicht. Sie war hinter ihr zugefallen. Alex suchte nach dem Schlüssel, zog die Glock aus der Tasche und tastete sich ab. Da war kein Schlüssel. Der Schlüssel lag oben.
»Shit«, zischte Alex. Und jetzt? Ihr blieb nichts anderes übrig, als bei einem Nachbarn zu schellen. Sie streckte den Finger aus und klingelte mit zitternden Fingern bei Jäger. Dann noch einmal.
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