Totenmond
sich sicher, dass sie sein Schreiben noch zur Kenntnis nehmen würde. Spätestens, wenn man seine letzte Beute fand, sollte sie auf die richtige Fährte geraten.
Sie, Alexandra von Stietencron. Polizeipsychologin in Lemfeld. Profilerin. Jägerin, und in dieser Hinsicht ein wenig wie er selbst.
Der Mann hatte alles über sie gelesen und den Fall mit dem Purpurdrachen und den Hexenmorden gebannt verfolgt. Sich gefragt, wie es wäre, wenn diese Alexandra hinter ihm her wäre, statt hinter irgendwelchen anderen, die nicht ansatzweise über die Komplexität seiner Persönlichkeit verfügten. Es wäre berauschend, zu verfolgen, wie sie sich ihm Schritt für Schritt annäherte, dachte der Mann. Und weil er das große Potenzial in Alexandra sah, hatte er entschieden, ihr eine Chance zu geben.
Ohnedies war sie die Einzige, die in Lemfeld dafür in Frage kam. Alexandra, dessen war er sich sicher, hatte Format, war nicht so dämlich und tapsig wie die anderen Bullen. Die Tölpel hatten keine Ahnung, standen viel weiter unten in der Nahrungskette und hatten bislang nicht einen einzigen seiner Hinweise verstanden.
Alexandra hingegen wäre vielleicht klug genug, um in Gänze zu erfassen, was er tat und warum. Wenn sie sich als stark genug erweisen würde, um die Bestie in ihm zu erlegen, würde er ihr sogar freiwillig die Kehle darbieten. Damit sie sie zerfetzen konnte. Je länger er darüber nachgedacht hatte, desto besser hatte ihm der Gedanke daran gefallen. Denn selbst würde er das Tier in sich niemals besiegen können.
Falls sie sich jedoch nicht als würdig erweisen würde und ihn enttäuschte, würde es eben andersherum laufen müssen. So war das in der Natur. Der eine jagte den anderen. Der Bessere setzte sich durch.
Nun hatte sie die andere Straßenseite erreicht. Bei jeder Bewegung tanzte der Zopf in ihrem Nacken. Ihr Gesicht war weiß wie der Schnee.
Sie blieb auf dem Bürgersteig stehen, besprach etwas mit einem ihr entgegenkommenden Polizisten und sah zur Seite. Zur Absperrung. Zu ihm. Für einen Moment trafen sich ihre Blicke. Ein Moment, der ihn so sehr schaudern ließ, dass er sich am Mast eines Straßenschilds festhalten musste. Sie strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Eine Bewegung voller Anmut und Grazie, die seinem Herzen einen Stich versetzte. Dann war der Augenblick vorüber, und die Geräusche der Stadt drangen wieder an sein Ohr. Plappernde Menschen, knirschender Schnee. Das Krächzen von Funkgeräten.
Wenige Augenblicke später war Alex in der Bücherei schräg gegenüber verschwunden, und damit erlosch das Interesse des Mannes an der Übung. Er tat einen Schritt zur Seite und bewegte sich durch die Menschen. Er ging an Streifenwagen vorbei und nickte zwei Passanten zu, die ihn grüßten. Denn natürlich war er kein Unbekannter in Lemfeld, allerdings nicht allzu bekannt. Und niemand hatte einen Schimmer davon, nicht die geringste Ahnung, was und wer er wirklich war.
Im Gehen zog er den rechten Handschuh aus und vergrub die Finger in der Manteltasche. Sie suchten nach dem Rasiermesser und schlossen sich fest darum, nachdem sie es ertastet hatten. Sein Gewicht war beruhigend, wie das eines Handschmeichlers. Die hochelastische Klinge war aus Damaszener Stahl gefertigt. Ihre aufregende Optik entstand, indem man Stahlsorten unterschiedlicher Härte aufeinanderschmiedete und mit einer anschließenden Behandlung im Säurebad das charakteristische Tigerstreifenmuster hervorhob. Das Muster eines Jägers. Dann blieb der Mann an einer der Buden auf dem Weihnachtsmarkt stehen und kaufte ein paar warme Donuts.
Er ließ sie zum Mitnehmen einpacken und pfiff im Weggehen die Melodie von Bad Moon Rising.
5.
L eon, Franky und Hans hatten die Power. Sie waren Tush, was so viel bedeuten konnte wie »Müll«, »Eckzahn« oder einfach den Ausruf »Pah!«. Eine Menge von Möglichkeiten, und das hatte den aufgehenden Stern am Lemfelder Alternative-Rock-Himmel von Anfang an begeistert.
Gerade schlichen sie mit gegen die Kälte hochgezogenen Schultern über den alten Parkplatz an den Schliemannschen Werken, ihre Instrumentenkoffer im Schlepptau. Hans trug darüber hinaus Stativ sowie die digitale Spiegelreflex von seinem Vater. Es war Sonntag, arschkalt. Es lag Schnee, und sie wollten mit Selbstauslöser ein paar Band-Fotos machen. In ein paar Wochen hatten sie einen Gig im Station im alten Bahnhof, eigentlich ein Blues- und Jazz-Club. Aber es gab regelmäßig einen Tag im Monat für Nachwuchsbands, und sie
Weitere Kostenlose Bücher