Totenmond
arbeitet in Wechselschichten, manchmal auch in 24-Stunden-Diensten. Weihnachten hatte sie zum Beispiel Dienst und keine Zeit. Sie ist wie ich geschieden, hat wie ich lange alleine gelebt und hört auch gerne Volksmusik. Passt.«
»Passt«, lachte Alex. Eine Weile musterte sie Schneider von der Seite.
»Was denn?«, fragte er, als er es bemerkte.
»So viel hast du mir in den letzten fast zwei Jahren nicht am Stück über dich erzählt.«
»Hehe«, lachte Schneider. »Wenn der alte Mann verknallt ist, löst das die Zunge, gell? Maria macht auch Line-Dance. Sie will mich mal mitnehmen.«
Alex unterdrückte ein Grinsen und versuchte, das Bild von Rolf mit Cowboyhut schnell wieder aus dem Kopf zu bekommen.
»Ich steh eigentlich nicht auf Country«, erklärte er, »aber ich habe mal gelesen, dass es die deutschen Auswanderer in den USA waren, die mit ihrer Volksmusik den Grundstock dazu gelegt haben. Von daher schließt sich ja der Kreis.« Schneider warf einen Blick in den Rückspiegel und fuhr sich durch die Haare. »Ich muss mal zum Friseur. Ich sehe aus wie ein Hippie.«
»Na ja«, machte Alex, beugte sich etwas zur Seite und zupfte Rolf an einer seitlich abstehenden Strähne. Sie war weich wie Kükenflaum. »Etwas zerrupft siehst du schon aus.«
Wenige Minuten später bog Schneider von der Kreisstraße ab. Der Vectra holperte über einen nur spärlich geräumten, mit Schotter gestreuten Weg und hielt auf das von der evangelischen Johannesmission getragene Heilpädagogische Kinderheim Luisenhof zu, das seit vielen Jahren in einer früheren fürstlichen Domäne untergebracht war, einem alten Gutshof. Er fuhr vorbei an kleinen, mit Schnee bedeckten Gärten, in denen die Erzieher mit den Kindern und Jugendlichen im Frühjahr Gemüse anpflanzten, und passierte eine aus Weiden gewundene Hütte, die laut einem davor aufgestellten Schild im Sommer im Rahmen eines BUND-Naturschutzprojekts errichtet worden war.
Schließlich fuhr der Vectra durch ein großes steinernes Glockentor auf den gepflasterten Hof und parkte neben anderen Fahrzeugen vor dem imposanten und mit Türmchen verzierten Herrenhaus, in dem die Verwaltung untergebracht war. Links und rechts daneben befanden sich in einigem Abstand die großen Anlagen der früheren Stallungen und Scheunen, die man in Wohn- und Freizeitbereiche sowie Werkstätten umfunktioniert hatte. In einem etwas kleineren Gebäude wohnten die älteren Jugendlichen, erklärte Schneider, während er den Motor abstellte. Dort hatte auch Nele Bender in einer betreuten Wohngruppe gelebt.
Schneider zog den Reißverschluss der Blousonjacke zu, schloss den Vectra mit der Fernbedienung ab und marschierte in seinen Thermostiefeln durch den Schnee, bis er die Treppe erreicht hatte, die zum Hauptportal führte. Alex folgte ihm. Wie auf rohen Eiern ging er über die glatten, gemusterten Fliesen im Foyer, bis er schließlich auf den Flur gelangte, an einer großen Eichentür anklopfte und schließlich das völlig überhitze Büro des Heimpädagogen Gregor Potthast betrat, der Alex und Schneider mit einem herzlichen Lächeln willkommen hieß und ihnen einen Tee anbot, den Schneider ablehnte, Alex jedoch dankend annahm.
Potthast war etwa Mitte vierzig und trug eine hellbeige Cordhose zu einer olivfarbenen Fleecejacke. Seine Füße steckten in Trekkingstiefeln. An seinem Handgelenk erkannte Alex ein Armband aus Holzkugeln. In Potthasts rechtem Ohrläppchen sah sie einen Brilli. Der braune Teint seiner grobporigen Haut ließ ihn wie einen Surfer oder professionellen Bergsteiger wirken.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte Potthast in einem weichen Tonfall.
»Ja, Herr Potthast«, sagte Schneider, »vielen Dank, dass Sie spontan Zeit für uns haben. Es geht nochmals um den Mord an Nele Bender.« Er pellte sich umständlich aus dem Blouson, weil er darin ansonsten wie ein Rollbraten gebacken werden würde, dachte Alex. Auch sie zog ihre Jacke aus.
»Oh.« Potthast faltete die Hände, indem er die Fingerspitzen aneinanderlegte. Seine freundliche Miene verwandelte sich in die eines tiefbetroffenen Märtyrers.
»Wir sind in der Sache leider noch nicht weitergekommen, aber es haben sich neue Gesichtspunkte ergeben.«
»Ah.« Potthast nickte verständnisvoll und rieb sich nachdenklich das Ohrläppchen, in dem der Brilli steckte. »Ja, wir hatten gestern Besuch von einem Ihrer Kollegen. Er hatte ebenfalls einige Fragen in Bezug auf Nele und hat einige Bilder von ihren Bekanntschaften herumgezeigt,
Weitere Kostenlose Bücher