Totenmond
allerdings war der Wohngruppenleiter nicht da.«
Alex und Schneider wechselten einen Blick. Veronikas Leute. Schon wieder.
Alex fragte: »Sie haben die Gruppe, in der Nele lebte, doch selbst geleitet?«
Potthast öffnete die Hände, um sie schon im nächsten Augenblick wieder wie zum Gebet zu falten. »Wie ich bereits verschiedentlich erwähnte, hatte ich die Gruppe vor drei Jahren übernommen, nachdem ich aus Hannover nach Lemfeld gewechselt bin.«
Also nicht sehr lange vor dem ersten Mord, überlegte Alex. »Aha, und von welchem Wohngruppenleiter haben Sie eben gesprochen?«
Potthast runzelte die Stirn. »Habe ich?«
»Haben Sie«, sagte Schneider.
Jetzt grinste Potthast und strich sich wieder eine Strähne hinter das Ohr. Eine Geste der Unsicherheit. »Ach so, den aktuellen Wohngruppenleiter meinte ich.«
»Mhm«, machte Alex und wärmte sich die Hände an der Teetasse.
Ihre Blicke strichen über die Bürowände, an denen neben einem schlichten Holzkreuz Fotos hingen. Sie zeigten den Pädagogen lachend mit ebenfalls lachenden farbigen Kindern, Jugendlichen und einigen Erwachsenen vor Bauten aus bunten Brettern, alten Paletten und Bananenkisten. Anscheinend hatte sich Potthast eine Zeitlang in Afrika oder Südamerika aufgehalten. Es gab dort viele kirchliche Hilfsprojekte, wie Alex wusste. Kindergärten, Schulen, Waisenhäuser …
Potthast sagte: »Niemand von uns hatte eine Ahnung, dass Nele diese Art von Doppelleben geführt haben könnte, dass sie sich dieser Gefahr ausgesetzt hat. Wir waren tief betroffen und sind es immer noch.«
»Man blickt eben nie ganz hinter die Fassade«, sagte Alex und trank einen Schluck Tee.
»Absolut«, pflichtete Potthast bei. »So ist es leider. Und diese Erkenntnis war schockierend. Unsere Arbeit basiert auf gegenseitigem Vertrauen. Wir geben uns alle Mühe, die Kinder und Jugendlichen auf einem guten Weg ins Leben zu begleiten – natürlich schert dann und wann auch mal einer aus …«
»Was heißt das?«, hakte Schneider nach.
»Nun, wir betreuen Jugendliche, die oft eine schwere Biographie mit sich herumtragen und dadurch empfänglicher für manche Dinge sind als andere. Aber wenn Derartiges offenkundig wird wie bei Nele, haben wir ganz einfach versagt und müssen uns fragen: Warum?«
»Haben Sie eine Antwort gefunden?« Alex sah ihn erwartungsvoll an.
»Leider nein. Wir können die Kids nicht überwachen – das würde unserem Konzept vom respektvollen Umgang und dem christlichen Miteinander völlig zuwiderlaufen.«
»Mhm.« Schneider knetete die Knöchel seiner fleischigen Hände. »Der Name Antje an Huef – ist der Ihnen geläufig?«
Potthast dachte nach. »Nein.«
»Sie war als Kind hier im Luisenhof.«
»Wie so viele«, schränkte Potthast ein.
»Wie so viele«, bestätigte Schneider.
»Wir können gerne nachprüfen, was es mit einer Bewohnerin dieses Namens auf sich hat, und Ihnen die Daten zukommen lassen. Aus dem Stand kann ich nichts dazu sagen.«
An sich kein Wunder, dachte Alex. Antje war mit vier Jahren adoptiert worden und konnte nur kurze Zeit hier gelebt haben – alles lange vor Potthasts Zeit, und dann hatte sie auch noch einen anderen Familiennamen erhalten.
»Ich wäre Ihnen sehr verbunden«, sagte Schneider, und Potthast nickte, machte sich eine Notiz.
Schneider fragte: »Ich würde gerne noch etwas im Zusammenhang mit Nele Bender wissen. Sie hatte verschiedene Foren-Profile auf dem Laptop angelegt, das bei ihrer Freundin in der Stadt deponiert gewesen war. Dürfen die Bewohner hier eigene Computer haben?«
»Nein, wir möchten das nicht«, schilderte Potthast. »Aber selbstverständlich haben wir einen Medienraum, in dem das Surfen kontrolliert ermöglicht wird.«
Alex merkte auf. »Hat Nele diesen Medienraum ebenfalls besucht?«
»Davon gehe ich aus. Die Internetzugänge können jeweils für einen gewissen Zeitraum täglich genutzt werden. Jeder Bewohner hat ein Passwort, das an ein tägliches Zeitkontingent geknüpft ist. Natürlich sind einige Webseiten gesperrt sowie bestimmte Schlagwörter in der Suche.«
»Lässt sich noch nachträglich feststellen, wann sie dort aktiv gewesen ist?«
Potthast nickte. »Für jedes Kennwort gibt es Protokolle. Daraus geht auch hervor, welche Webseiten für wie lange besucht worden sind. Damit wollen wir Missbrauch vorbeugen und darüber hinaus feststellen, wann auf welchem Account eventuell schädliche Software heruntergeladen worden ist – Würmer, Trojaner, Viren. Das ist ein
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