Totenmond
einen Gerichtsbeschluss. Das ist streng vertraulich.«
»Streng vertraulich«, wiederholte Schneider.
Potthast nickte. »Nun, ich hoffe, ich konnte Ihnen bis hierher etwas weiterhelfen.«
»Konnten Sie.«
Schneider stand auf und schlüpfte in seine Jacke. Zum Abschied schüttelten er und Alex Potthast die Hand und verließen das Gebäude.
Schneider zupfte sich wieder in den Haaren, als er sich im Rückspiegel des Vectra betrachtete und den Motor anließ.
»Ich werd noch irre«, sagte Alex. »Was zieht die Ermittlungsgruppe Veronika da hinter unserem Rücken ab?«
»Reg dich nicht auf. Wir werden es schon noch früh genug erfahren, denke ich.«
Alex verdrehte die Augen. »Pff.«
Schneider setzte aus der Parklücke und steuerte den Vectra über den Hof zur Straße. Alex sah aus dem Fenster. Wie ein bleicher Totenschädel, dem ein Stück von der Hirnschale fehlte, war der Mond am hellblauen Himmel am späten Nachmittag dieses letzten Tages im Jahr zu sehen. Es war, als blicke er auf Lemfeld herab. Wissend und fordernd.
Nicht mehr lange bis zum nächsten Vollmond, dachte Alex. Und fragte sich, warum ihr dieser Gedanke durch den Kopf ging.
38.
D er Mond, dachte der Mann und starrte auf den Computerbildschirm, zeigte die Dinge so, wie sie wirklich waren. Er kehrte das Innerste nach außen, spülte es heraus. Er verwandelte alles. Er verlieh Macht.
Doch je mehr Kraft er weitergab, desto mehr Appetit bekam er. Man konnte durchaus sagen, dass er in der letzten Zeit beinahe unersättlich war. Er forderte seinen Tribut – und diesen musste er ihm darbringen. Man musste den Bohfimah füttern.
Der Bohfimah repräsentierte den Mond, den Gott der Veränderung. Er war ein mächtiger und grausamer Fetisch. Unerbittlich. In der Ecke des Raumes hing er an einem Strick unter der Decke und glänzte vom Nierenfett. Wer unter seinen Einfluss geraten war, konnte sich ihm nicht mehr entziehen. Keine Chance. Und der Mann hatte es wirklich versucht. Ernsthaft versucht.
Er hatte sich selbst gefesselt und eingesperrt. Sich verweigert, dem Fetisch zu opfern, wenn dieser danach verlangte. Zwecklos. Unerträgliche Schmerzen waren die Antwort gewesen. Die Qualen hatten dafür gesorgt, dass nichts mehr gelang. Alles ging schief. Schließlich hatte der Mann vor dem Hunger und der Gier seines Gottes kapituliert und auf diese Weise einerseits die Lehre des Bohfimah verinnerlicht: Knien ist leichter, als aufrecht zu stehen. Er hatte andererseits begriffen, dass ein Entkommen aus eigener Kraft unmöglich war. Nur jemand anders würde es stoppen können. Jemand, der besser war als er selbst. Stärker. Vielleicht sie. Alexandra.
Der Mann zog so lange an dem Strohhalm, bis aus dem Colaglas vor ihm nur noch ein Schnorcheln zu hören war, und spulte den Videoclip etwas vor. Zwischen die Sexszenen mit Antje hatte er Aufnahmen aus dem Lagerraum der Schliemann-Fabrik geschnitten. Je mehr der Clip dem Höhepunkt entgegensteuerte, desto schneller wechselten sich die Bilder aus Ekstase und Schmerz ab. Am Ende im Sekundentakt.
Schließlich schloss er den Viewer, startete mit einem Doppelklick die Datei mit der Bezeichnung »Seeräuber-Jenny« und sichtete das Material. Dank dem Polfilter, den er vor die Linse der Kamera geschraubt hatte, waren die Aufnahmen durch das Fenster spitze geworden. Keine Reflexionen vom Glas. In Full-HD-Auflösung war zu erkennen, wie Jenny mit ihrer dünnen Lederjacke in die Wohnung kam. Ehe man sich versah, hatte sie sich auch schon aus den Sachen gepellt und tat, was sie alle taten.
Schlampe, dachte der Mann. Verdorbenes Stück Fleisch. Sein Puls beschleunigte sich. Er rutschte nervös auf dem Stuhl hin und her. Ihm wurde heiß und kalt.
Er stoppte den Clip und legte einen neuen Datei-Ordner an. Für die Zwischenschnitte würde er bald sorgen, und zwar genau in … Er warf einen Blick auf den Mondphasenkalender, der neben dem PC hing. Schon sehr bald.
Schließlich öffnete er die Radiosoftware und überflog die Lied-Titel, die er für das heutige Silvesterspecial vorbereitet hatte. Es würde ein Livestream werden.
Der Mann schmunzelte, als er auf der Playlist Killing Moon von Echo & The Bunnymen las und summte die Melodie. Er dachte an den jammernden Gesang und dass ihm diese klagenden Stimmen immer schon gefielen. Vielleicht, weil sie etwas von Jimi Hendrix’ hypnotischem Gitarrenspiel hatten.
Papa hatte früher oft Hendrix aufgelegt und die Anlage voll aufgedreht, damit die Schläge und Schreie des Jungen den
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