Totenmond
individuell geprägt hat. Eventuell werden wir ein Täterprofil erstellen. In etwa …« Stemmle warf einen Blick auf seinen Laptop und klickte den Kalender auf, »… in etwa vier bis sechs Wochen könnte ein solches Gutachten vorliegen. Allerdings müssten wir eine vergleichende Fallanalyse durch ein zweites Team einleiten, weil es sich um eine Mordserie handelt und wir sichergehen sowie objektiv bleiben müssen. Das könnte die Sache noch etwas verzögern. Weiter benötigen wir einen Antrag für die ViCLAS-Recherche bei der Zentralstelle. Die Bearbeitung dauert bekanntlich maximal drei Wochen. Liegt das Ergebnis vor, flechten wir es in die übrige Arbeit ein.«
Alex hibbelte auf ihrem Stuhl herum und kaute auf der Unterlippe. »Das dauert viel zu lange.«
»Zaubern können wir nicht. Lemfeld ist nicht der einzige Kreis, in dem getötet wird. In NRW hatten wir letztes Jahr neunundneunzig Morde und zweihundertsechzig versuchte Tötungsdelikte.«
Alex strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr und hob irritiert eine Augenbraue. Was redete Stemmle denn da? »Ich …«, stammelte sie und leckte sich nervös über die Lippen, »… ich möchte nur klarstellen, dass ich der Meinung bin, dass der Täter bald wieder zuschlagen könnte und mir mit Sicherheit erneut eine Nachricht zukommen lassen wird, und …«
»… und deswegen tut man in Ihrer Ermittlungsgruppe gut daran, Sie so lange einzubinden, bis es anderslautende Darstellungen oder Bestätigungen in Gutachten der OFA gibt. Denn genau dafür ist Ihre Stelle da. Damit die Dinge schneller gehen.«
Alex nickte. Nun hatte sie verstanden, was Stemmle sagen wollte.
»Er ist ein ausgefuchster Bursche, euer Täter.« Stemmle setzte seine Brille wieder auf, blickte aus dem Fenster und faltete die Hände im Schoß über dem cognacfarbenen Stoff seiner Cordhose. »Sie haben erwähnt, dass er Sie verfolgt?«
»Ich vermute es«, sagte Alex leise. »Aber ich bin mir nicht sicher. Vielleicht sehe ich Gespenster. Zumindest schickt er mir seine Briefe, und er …«
»Macht es Ihnen Angst?«
»Nein.«
»Es gibt bessere Lügner.«
Alex knetete ihre Hände. »Er weiß, wo ich wohne, und ich glaube, er beobachtet mich und weidet sich daran. Er will ein Spiel. Vielleicht will er sogar gefasst werden und gibt uns deswegen diese Hinweise. Damit es ein Ende mit dem Morden hat.«
»Und deswegen will er wissen, ob Sie ihm gewachsen sind. Gut, clever und nervenstark genug, um es mit seiner gottgleichen Größe aufzunehmen. Würdig. Es ist ein Test.«
Alex wurde heiß und kalt. Stemmle könnte recht damit haben, dass es in diesem Spiel vielleicht auch um sie selbst ging.
»Halten Sie das aus?« Stemmles wasserfarbene Augen spießten sie auf wie eine Nadel einen Schmetterling.
»Natürlich. Weil ich ihn fassen will, um jeden Preis«, antwortete sie und räusperte sich.
Stemmle rieb sich am Ohrläppchen, machte einige Male »Hm« und nickte wieder wie ein Wackeldackel. »Die EU hat Fördergelder zur Stärkung von Europol bewilligt. Das BKA trägt sich wie andere Bundespolizeien mit der Idee, eine Sondereinheit zusammenzustellen. Klein, agil, effizient. Eine Taskforce, die grenzübergreifend tätig sein wird. Ich bin an der Konzeption beteiligt. Es gibt dafür eine neue Datenbank. Effizienter und einfacher zu handhaben als alle bisherigen Systeme. Wir nennen sie ViCTOR. Die Abkürzung steht für ›Violent Crime Tracking, Operation and Research‹ – ein europaweites Analysesystem für das Erkennen von Tatzusammenhängen bei Gewaltverbrechen. Die Betaversion läuft bereits und ist im Prinzip einsatzfähig, benötigt allerdings noch einige DIN-Zertifikate, um offiziell genutzt werden zu können und vor Gericht standzuhalten.« Stemmle fragte: »Interessiert, ViCTOR mal ganz inoffiziell mit einer Anfrage zu testen?«
Alex lächelte schwach. »Das wäre sicher spannend.«
»Aber nicht vergessen«, sagte Stemmle und hob im Aufstehen spielerisch den Zeigefinger, »dass mögliche Ergebnisse vor Gericht in der Beweismittelkette nicht zulässig wären.«
»Natürlich.« Alex erhob sich ebenfalls und griff nach ihrer Handtasche.
49.
A ls Alex bei Wuppertal in einen Stau geriet und den Warnblinker einschaltete, warf sie einen Blick auf die zahlreichen Ausdrucke auf dem Beifahrersitz. Fette Beute. ViCTOR hatte zu ihr gesprochen. Obendrauf lag eine Kopie des Gutachtens aus der KTU. Horst hatte es für Alex hinterlegen lassen. Das Original würde er postalisch verschicken.
Das
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