Totenmond
könntest dir doch an jeder Straßenecke jemanden auflesen, wenn es nur um die Bedürfnisbefriedigung geht. Die dahinten sehen doch zum Beispiel ganz nett aus.«
Silke nahm die Tasse in beide Hände und nickte in Richtung der Panorama-Fensterscheibe, wo drei junge Männer in Jennys Alter saßen. Wahrscheinlich Studenten von der FH. Einer blickte gerade herüber und lächelte Jenny zu. Schnell sah sie wieder weg. Süß. Nett. Aber wer wollte schon jemanden, der nett und süß war?
Außerdem war ihr heimlicher Freund deutlich erfahrener als die Jungs da drüben. Er wusste, wie man die Saiten in einer Frau zum Klingen brachte. Er hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass es ihm nur um Sex ging. Bei ihm musste man nicht befürchten, dass es schwierig werden konnte, wenn man ihn wieder loswerden wollte, und dass er einem mit Briefchen und Blümchen auf die Nerven gehen würde. Zumal Jenny niemals lange Beziehungen gepflegt hatte. Sie hatte ein Problem mit zu viel Nähe – was wohl in der strengen Erziehung zu Hause sowie in ihrer Biographie generell begründet war. In der entscheidenden Zeit ihrer Entwicklung hatte sie nach dem Unfalltod ihrer Eltern auf Nestwärme und Nähe verzichten müssen. Und er war genauso. Auch seine Eltern waren früh gestorben.
Jenny öffnete den Mund, um Silke etwas zu sagen. Er war – aufregend, intensiv, unverbindlich … Das hatte sie erklären wollen, trank stattdessen aber noch einen Schluck. Sie sagte: »Mir geht’s im Moment nur um Spaß, Silke. Ein paar unverbindliche Kicks, mehr nicht.«
»Trotzdem.«
Jenny griff nach dem Handy. Noch immer keine Antwort. Sie fuhr mit dem Daumen über die glatte Oberfläche des Telefons, als würde sie es zärtlich streicheln.
Silke sog die Luft durch die Nase ein. »Ich kann nur hoffen, dass du weißt, was du da tust. Ich stehe jedenfalls nicht auf solche Sachen, und versprich mir, dass du auf dich aufpasst, okay?«
Mit einem Gong meldete sich das Handy. Das Logo der GetLove-App blinkte auf. Sofort tippte Jenny mit der Fingerspitze auf das Symbol, um die Nachricht zu öffnen.
»Hallo, Erde an Jenny, jemand zu Hause? Ich hab dich etwas gefragt«, hörte sie Silkes Stimme.
»Was?«
Eine Nachricht von ihm. Morgen Abend Treffen im Jacks, einem Club, und danach … Ein grinsender Mondgesichts-Smiley verhieß, was danach kommen sollte. »Ja, ich pass schon auf«, erklärte sie, bevor Silke ihre Frage wiederholen konnte.
Dann tippte sie ein »Freue mich auf dich« und schickte die Mitteilung ab.
47.
I ch könnte der Alten eine langen, dieser Veronika Martens«, schnaubte Alex. Ihre Sohlen quietschten auf dem Boden des weitläufigen, lichtdurchfluteten Foyers im neuen Landeskriminalamt in Düsseldorf.
»Klingt so«, sagte Helen, »als sei die ein echter Pitbull und hätte dich gefressen.«
»Sie ist dabei.« Abrupt blieb Alex stehen und blickte sich um. »Wo sind denn die Fahrstühle?«
»Ehm«, machte Helen und legte den Finger an die Lippen.
Alex sah sich um und versuchte sich zu orientieren. In dem Altbau kannte sie sich noch etwas aus – aber hier? Die zuvor an verschiedenen Standorten untergebrachten mehr als tausend Mitarbeiter waren nun unter einem Dach zusammengefasst worden. Ein Mammutbau mit tausendfünfhundert Räumen auf einer Fläche von sechzigtausend Quadratmetern. Allein ein Drittel nahm das kriminalwissenschaftliche und technische Institut ein, das pro Jahr zahllose Untersuchungsanträge aus den Kreispolizeibehörden zu bearbeiten hatte: Analysen von DNA-Proben, DNA-Spuren, Material- und Erdspuren, daktyloskopische Fingerabdruck-Untersuchungen und vieles mehr. Irgendwo dort in der Nähe musste das Büro von Dr. Johannes Stemmle sein, Alex’ Mentor in der Operativen Fallanalyse und zuständig für die Betreuung und Supervision ihrer Pilotprojektstelle.
»Hab sie«, sagte Helen und zog Alex an der Jacke in Richtung der Fahrstühle. »Wir Blindfische sind dran vorbeigelaufen.«
»Tut mir leid, dass ich nicht so viel Zeit für dich habe«, murmelte Alex im Gehen.
Helen winkte ab. »Hat ja für ein Käffchen gereicht.«
Ja. Dünner Polizeikaffee in der Kantine des Düsseldorfer Polizeipräsidiums. Noch dünner als der in Lemfeld. Helen hatte danach noch darauf bestanden, Alex ins LKA zu begleiten, damit sie unterwegs weiterreden konnten.
»Dabei habe ich dir die größte Neuigkeit noch gar nicht erzählt«, gestand Alex.
»Ach nein?«
»Er heißt Jan.« Alex stoppte vor den Fahrstühlen und drückte den
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