Totenmontag: 7. Fall mit Tempe Brennan
eine Antwort.
»Shalom.« Eine Stimme wie eine Oboe.
Ich stellte mich vor.
Der Mann sagte, er heiße Harry Cohen.
»Ist das dieselbe Boucherie Lehaim, die sich in den Achtzigern in der Ste. Catherine befand?«
»Ja. Der Laden gehörte damals noch meinem Vater.«
»Abraham?«
»Ja. Wir zogen siebenundachtzig um.«
»Darf ich fragen, warum?«
»Wir sind auf eine strikt koschere Kundschaft ausgerichtet. Das Viertel hier schien uns da besser geeignet.«
»Ich weiß, diese Frage mag jetzt vielleicht merkwürdig klingen, Mr. Cohen, aber können Sie sich an irgendetwas in Bezug auf den Keller dieses Gebäudes erinnern?«
»Der Keller war nur über unseren Laden zugänglich. Wir hatten nichts dort unten, und ich kann mich nicht erinnern, dass irgendjemand da unten gewesen wäre.«
»Könnten andere Mieter den Keller als Abstellkammer benutzt haben?«
»Wir hätten eine solche Verwendung unserer Räumlichkeiten nicht gestattet, und hinunter kam man nur durch eine Falltür in unserer Toilette. Mein Vater hielt diese Tür immer mit einem Vorhängeschloss verschlossen.«
»Wissen Sie, warum er das tat?«
»Mein Vater ist äußerst sicherheitsbewusst.«
»Weshalb?«
»Er wurde 1927 als Jude in der Ukraine geboren.«
»Natürlich.«
Ich griff nach Strohhalmen. Was sollte ich sonst noch fragen?
»Kannten Sie die Mieter vor oder nach Ihnen?«
»Nein.«
»Sie waren fast sechs Jahre dort. Gab es einen speziellen Grund für Ihren Umzug?«
»Die Gegend wurde« – Cohen zögerte – »unangenehm.«
»Unangenehm?«
»Wir sind Chabad-Lubawitscher, Dr. Brennan. Ultra-orthodoxe Juden. Sogar hier in Montreal werden wir nicht immer verstanden.«
Ich dankte Cohen und legte auf.
Eine kleine Fichte wächst in einem steinernen Pflanzkübel in der Mitte des Innenhofs. Jeden Dezember schmückt der Hausmeister das dürre Ding mit Lämpchen. Doch Winston hatte es nicht mit dem geschmackvollen Weihnachtsweiß, wie die Presbyterianer in Connecticut es bevorzugen. Es muss grellbunt kitschig sein oder gar nicht.
Vor allem mein Kater weiß das sehr zu schätzen. Stundenlang liegt Birdie zusammengerollt vor dem Kamin, und sein Blick wandert von den Flammen zu Winstons Wunder im Schnee.
Am Sonntagnachmittag folgten Anne und ich Birdies Beispiel. Stundenlang lümmelten wir vor dem Feuer, die Köpfe auf Kissen gestützt, die Füße auf der Kamineinfassung. Über endlosen Tassen Kaffee und Tee jammerte ich über Claudel und Ryan. Anne jammerte über Tom. Wir lachten über unsere Sehnsüchte. Wir brüteten über unseren Sehnsüchten.
In diesen Stunden des Redens und des Auf und Ab der Worte wurde mir die wahre Tiefe von Annes Elend bewusst. Die Einkaufstouren und das Geplänkel waren ihr »Theatergesicht« gewesen. Klatsch die Schminke auf, und hoch mit dem Vorhang. Die Show muss weitergehen. Gewinn für das Team. Tu’s für die Kinder. Tu’s für Tempe.
Anne war immer ziemlich unerschütterlich gewesen. Ihre intensive Traurigkeit verstörte mich deshalb sehr. Ich hoffte inständig, dass daraus keine permanente Traurigkeit wurde.
Während wir redeten, versuchte ich, mir ermutigende Sachen einfallen zu lassen. Oder tröstende. Oder wenigstens ablenkende. Aber alles, was ich sagte, klang klischeehaft und abgedroschen. Letztendlich versuchte ich nur noch, ihr meine Unterstützung zu zeigen. Aber ich machte mir große Sorgen um meine Freundin.
Hauptsächlich redeten Anne und ich über gemeinsame Erlebnisse. Die Nacht, als wir nackt im See schwammen. Die Party, bei der Anne sich beim Tanzen auf den Hintern setzte. Der Ausflug zum Strand, bei dem wir den zweijährigen Stuart verlegten. Der Tag, an dem ich betrunken zu Katys Vortrag kam.
Das Jahr, in dem ich zu allem betrunken kam.
Zwischendurch kontrollierten wir immer wieder unsere Nachrichten.
Viele von Tom.
Keine von Ryan.
Obwohl ich alle paar Stunden die Nummer wählte, weigerte Mrs. Gallant/Ballant/Talent sich beharrlich, ans Telefon zu gehen. Und ebenso beharrlich weigerte sie sich zurückzurufen.
Hin und wieder kam unsere Unterhaltung auf Claudels Knöpfe. Monique Mousseau hatte sich nicht zum Alter oder zur Bedeutung der Fälschung geäußert. Anne und ich dachten uns zahllose Szenarios aus. Keins davon ergab einen Sinn. Birdie trug wenig Erhellendes bei.
Am Sonntagabend überredete ich Anne schließlich, einen Anruf von Tom anzunehmen. Danach trank sie sehr viel Wein. Still.
17
Anne schlief noch, als ich am Montagmorgen zur Arbeit ging. Ich schrieb ihr einen
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