Totennacht (German Edition)
leckerere Essen vorenthalten blieb, hatte James auf den kleineren Jungen eingedroschen, so heftig, dass dieser ins Krankenhaus gebracht werden musste. Die Arztrechnung stand noch aus und würde von ihr, Kat, bezahlt werden müssen.
«Du hast eine Woche Hausarrest», strafte sie James. Sie saßen in ihrem Crown Vic und kamen im dichten Nachmittagsverkehr auf der Main Street nur im Kriechtempo voran. Noch während Kat im Büro der Rektorin gesessen hatte, war zum Schulschluss geläutet worden. Jetzt, zur Hauptverkehrszeit, schienen sämtliche Autos von Perry Hollow in Bewegung zu sein.
«Kein Computer», fuhr Kat fort. «Kein Fernsehen, keine Videospiele, kein iPod.»
«Und was ist mit Schule?»
Auf die musste er vorläufig ebenfalls verzichten. Jocelyn Miller hatte ihm Hausverbot erteilt, für mindestens eine Woche.
«Ich kann nicht glauben, dass du diesen Jungen verprügelt hast», sagte Kat. «Habe ich dir nicht beigebracht, dass so etwas tabu ist?»
James verschränkte trotzig die Arme vor der Brust. «Ich kann’s nicht leiden, wenn man sich über mich lustig macht.»
«Damit ist nicht entschuldigt, dass du einem Mitschüler das Mittagessen wegnimmst und mit den Fäusten um dich schlägst. Du hättest mir sagen können, dass dir nicht schmeckt, was ich dir einpacke.»
Er sollte verstehen, wie sehr sie sich darum bemühte, ihm gerecht zu werden, selbst unter stressigen Umständen. Alleinstehende Mutter eines Kindes zu sein, das besondere Aufmerksamkeit verlangte, und gleichzeitig für Sicherheit und Ordnung sorgen zu müssen war weiß Gott nicht einfach. In gewisser Weise war Perry Hollow so etwas wie ihr zweites Kind und manchmal noch anspruchsvoller und schwieriger als James.
«Wenn du etwas auf dem Herzen hast, musst du mit mir reden, kleiner Bär. Ich höre dir zu.»
James runzelte die Stirn. «Nein, tust du nicht.»
«Was soll das heißen?»
An Kats Einsatzkoppel vibrierte das Handy. Sie hatte es vor ihrem Treffen mit Jocelyn Miller auf stumm geschaltet und während der peinlichen Unterredung mehrfach surren lassen. Laut Anrufliste hatte Nick achtmal versucht, sie anzurufen. Jetzt probierte er es zum neunten Mal. Er hatte Neuigkeiten über Craig Brewster. Wichtige Neuigkeiten, wie sie vermutete. Aber sie konnte nicht rangehen, nicht solange James sie mit missmutigen Blicken bedachte.
Denn genau darum ging es. Um die vielen Telefonate, ihre langen Dienstzeiten, darum, zu Lou, Carl oder wem auch immer abgeschoben zu werden, die auf ihn aufpassen sollten. Daran etwas zu ändern hatte Kat zehn Monate zuvor hoch und heilig versprochen, als sie und James dem Serienkiller, der als Meister Tod bekannt geworden war, gefährlich nahe gekommen waren. Doch unbemerkt hatten sich alte Gewohnheiten wieder eingeschlichen.
«Es hat etwas damit zu tun, nicht wahr?», sagte Kat und hielt das Handy in die Höhe. «Es geht nicht um Lunchpakete oder Schulprobleme, sondern darum, dass du den Eindruck hast, mir wäre mein Job wichtiger als du.»
Sie erinnerte sich an das, was Jocelyn Miller über rüpelhafte Kinder gesagt hatte, die im Grunde nichts anderes als die Aufmerksamkeit ihrer Eltern zu erregen versuchten. Zu diesen Kindern zählte wohl auch James.
«Ist es das, was du willst?», fragte Kat. «Dass ich mich mehr um dich kümmere?»
James nickte.
Kat ließ das Fenster herunter und warf das Handy nach draußen. Es fiel klappernd auf die Straße. Ein entgegenkommender UPS-Transporter rollte darüber hinweg. Kat war zu verärgert, um sich darüber Gedanken zu machen.
«So», sagte sie. «Jetzt hast du meine ungeteilte Aufmerksamkeit.»
Die spannungsgeladene Stille, die folgte, dauerte rund eine Minute. Dann schepperte plötzlich Lous Stimme durch den Funklautsprecher. «Chief? Hörst du mich?»
Ein Handy ließ sich aus dem Fenster werfen. Das eingebaute Funkgerät nicht. Und sie musste antworten, egal, wie sehr James auch schmollen mochte.
«Ja, ich höre. Was ist los?»
«Zweierlei», ließ Lou vernehmen. «Erstens, die chinesischen Astronauten spazieren über den Mond. Internet und Fernsehen bringen Live-Bilder. Ich dachte, das könnte dich interessieren.»
Kat warf einen Blick in den Seitenspiegel und sah noch ein paar Reste ihres platt gefahrenen Handys. Die Astronauten hatten den Mond betreten, und sie hatte keine Ahnung, ob Craig Brewster inzwischen von Nick und Tony gefasst worden war.
«Und zweitens?», fragte sie.
«Soeben hat Glenn Stewart angerufen.»
«Nicht zu fassen. Was wollte
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