Totennacht (German Edition)
lassen zu wollen, doch Nick wurde immer unruhiger. «Erklären Sie uns, warum Sie mit ihm gegangen sind.»
«Er sagte, die Olmsteads wollten mich ohnehin loswerden.»
«Und das haben Sie ihm abgekauft?», fragte Nick.
Kevin schaute ihm ins Gesicht. «Ich weiß, das ist schwer zu verstehen. Aber versetzen Sie sich in meine Lage, in die eines zehnjährigen Jungen, der in einer Familie aufwächst, die auseinanderbricht. Es gab ständig Streit zwischen Ken und Maggie. Und dann war da dieses Baby. Tut mir leid, ich habe seinen Namen vergessen.»
«Eric», sagte Nick.
«Ach ja.» Kevin lächelte sanft. «Eric. Ken und Maggie standen kurz vor der Scheidung, und der Kleine steckte mittendrin in ihrem Zerwürfnis. Ich weiß noch, dass ich mir große Sorgen um ihn gemacht habe.»
«Und was war mit Ihnen?», fragte Tony.
«Ich zählte gar nicht mehr. Meist war ich draußen spielen, allein, oder ich bin den Nachbarn lästig gefallen. Die Olmsteads haben mich nie vermisst. Deshalb habe ich meinem Vater – meinem leiblichen Vater – geglaubt, als er sagte, dass sie mich loswerden wollten.»
«Sie sind noch in derselben Nacht mit ihm weggegangen?» Tony behauptete sich als Chef im Ring.
«Ja, aber erst, nachdem er mir versichert hat, den Olmsteads Bescheid gegeben zu haben.»
«Ahnten Sie nicht, dass er Sie getäuscht hat?»
«Nein. Hat er das? Das war mir nicht bewusst.»
«Wohin hat er Sie in dieser Nacht gebracht?»
«Auf irgendein Waldgrundstück, das ihm gehörte. In der Nähe eines Sees. Es war wunderschön dort. Er hatte eine Hütte gebaut, und wir schliefen in Schlafsäcken auf dem Boden. Er wollte von mir wissen, was mir gefällt und was nicht, was ich einmal werden wollte und wie ich in der Schule zurechtkäme. Wir sprachen die ganze Nacht. Am Morgen fragte er mich, ob ich noch eine Nacht bleiben wolle.»
«Haben Sie sich nach den Olmsteads erkundigt?»
«Ja, das habe ich. Er sagte, sie erlaubten mir, die ganze Woche zu bleiben, wenn ich es wollte. Und ich wollte.»
«Womit haben Sie sich die Zeit vertrieben?»
«Wir haben häufig geangelt und Marshmallows geröstet. Dabei hat er mir Gruselgeschichten erzählt. Gearbeitet haben wir auch. Er sagte, er wolle ein Ferienlager einrichten, ich könnte ihm dabei helfen. Wir haben Büsche gerodet und weitere Hütten gebaut. Es war schwere Arbeit, aber das war in Ordnung. Ich habe mich bei meinem leiblichen Vater wohlgefühlt. Und als die Woche um war, sagte er, die Olmsteads wären damit einverstanden, dass ich noch eine Woche bliebe. Und dann noch eine. Schließlich sagte er, ich könnte den ganzen Sommer über bleiben.»
«Haben Sie die Olmsteads denn überhaupt nicht vermisst?», fragte Nick. Er wusste, dass es Tony ärgerte, wenn er dazwischenfunkte, konnte sich aber nicht beherrschen. «Immerhin waren Sie bei ihnen aufgewachsen.»
«Anfangs, ja. Im Grunde habe ich damit gerechnet, dass sie mich irgendwann abholen. Aber sie kamen nicht, und das war für mich der Beweis, dass sie mich wirklich nicht mehr wollten. Also blieb ich.»
«Aber Sie mussten doch zurück zur Schule», sagte Tony. «Die Sommerferien waren schließlich irgendwann zu Ende.»
Kevin schüttelte den Kopf. «Mein Vater sagte, die Olmsteads wären umgezogen.»
«Hat er auch gesagt, wohin?»
«Nein, nur, dass das Haus, in dem wir früher gewohnt haben, jetzt leer stünde. Kurzum, ich blieb bei ihm. Er gab mir einen neuen Namen, zum Zeichen dafür, dass von nun an alles anders werde, sagte er. Zuerst hatte ich Probleme damit, aber dann gewöhnte ich mich daran, zumal mich in der neuen Schule alle Kevin nannten. Keiner wusste, dass ich früher Charlie hieß. Nach ein paar Monaten hatte ich es selbst fast vergessen.»
«Sie waren also fortan Kevin, der Sohn von Craig Brewster.»
«Ja.»
«Und Sie hatten es gut bei ihm?»
«Ja.»
«Kein Missbrauch? Keine sexuellen Übergriffe oder dergleichen?»
«Nein, nie. Er ist ein guter Mann.»
«Hat er die Gesellschaft anderer Jungen gesucht?»
«Wie meinen Sie das?»
«Hat zu irgendeinem Zeitpunkt ein anderer Junge bei Ihnen gewohnt? Jemand, den er möglicherweise als Neffen oder Sohn von Freunden vorgestellt hat?»
«Wie kommen Sie darauf?»
Nick hatte eine andere Frage, die er aber nicht aussprach, sondern auf einen Zettel schrieb, den er dann Tony zusteckte. Der stellte sie, wenn auch etwas angenervt.
«Haben Sie jemals versucht, mit den Olmsteads Kontakt aufzunehmen?»
«Nein.»
«Warum nicht?»
«Weil ich irgendwann – ob Monate
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