Totennacht (German Edition)
oder Jahre später, weiß ich nicht mehr – von meinem Vater erfahren habe, dass sie tot sind.»
«Beide?»
«Alle drei – Ken, Maggie und das Baby. Es sei ein tragischer Unfall gewesen, sagte er, und ich habe nicht weiter nachgefragt. Nun war ich auch amtlich sein Sohn.»
«Wie haben Sie diese Nachricht aufgenommen?»
«Es hat mir um die Olmsteads natürlich leidgetan.» Kevin richtete seinen Blick wieder auf Nick. «Wie Sie schon sagten, ich bin schließlich bei ihnen aufgewachsen. Und sie waren gut zu mir. Als ich von ihrem Tod hörte, habe ich geweint. Ich wollte zu ihrer Beerdigung, aber mein Vater sagte, sie seien schon beerdigt worden. Stattdessen führte er mich an den See, wo ich ihre Namen auf drei Steine schrieb und diese dann ins Wasser fallen ließ. So habe ich mich von ihnen verabschiedet.»
Nick war aufrichtig um Zurückhaltung bemüht, aber als er Kevin von seiner früheren Familie reden hörte, platzte es aus ihm heraus.
«Maggie ist erst vor kurzem gestorben», sagte er. «Ken und Eric leben noch.»
Kevin Brewster riss die Augen auf. Auch der letzte Rest an Farbe wich aus seinen Wangen.
«Das glaube ich nicht.»
«Ich habe Eric kennengelernt», entgegnete Nick. «Er sucht nach Ihnen. Und Maggie hat bis zu ihrem Lebensende darauf gehofft zu erfahren, was mit Ihnen geschehen ist.»
«Maggie Olmstead ist nicht meine Mutter.»
«Sie war es», sagte Nick. «Ihr Vater, dieser Craig Brewster, hat Sie belogen.»
«Beweisen Sie mir das.» Kevin sprang vom Tisch. Tony baute sich vor ihm auf. «Mein Vater lügt nicht.»
Nick verließ das Zimmer und ging geradewegs auf die Krankenschwester am Empfangstresen zu. Sie telefonierte gerade. Das Buch, in dem sie gelesen hatte, lag vor ihr. Nick griff danach und flüsterte: «Darf ich das mal kurz haben?» Sie nickte lächelnd, worauf er mit dem Buch zurück in das Arztzimmer ging und es Kevin in die Hand drückte.
«Wer hat das geschrieben?»
Kevin las den Namen des Autors. «Eric Olmstead.»
«Ihr Bruder. Er selbst fühlt sich als Ihr Bruder, nach wie vor.»
Nick nahm das Buch wieder an sich und zeigte Kevin das Foto auf der Rückseite des Einbandes, eine Schwarzweißaufnahme, die den Autor mit Blick in die Kamera zeigte. «Er lebt, Charlie.»
«Ich heiße Kevin.»
«Ja. Aber früher hießen Sie Charlie Olmstead und waren Teil einer Familie, die Sie liebte. Die Sie vermisste, als Sie verschwanden, und sich nichts sehnlicher wünschte, als Sie in Sicherheit zu wissen.»
Kevin Brewster fing an zu weinen. Nick fragte sich, wieso ausgerechnet in diesem Moment. Vielleicht waren seine Worte der Auslöser gewesen, vielleicht das Foto. Doch die Ursache zählte nicht. Wichtiger war, dass er einzusehen schien, jahrelang belogen worden zu sein. Er weinte und schluchzte so heftig, dass sein ganzer Körper bebte.
«Wo ist Eric jetzt?», fragte er, um Fassung bemüht.
«In Perry Hollow», antwortete Nick. «Eine halbe Stunde von hier entfernt.»
Kevin Brewster, der sich mit jeder Sekunde, die verstrich, allmählich in Charlie Olmstead zurückzuverwandeln schien, wischte sich die Augen.
«Bringen Sie mich zu ihm», sagte er. «Ich möchte ihn sehen.»
32
Eine Stunde.
Kat konnte die Zahl aus ihrem Kopf nicht streichen. Sechzig Minuten dauerte das Gespräch über James’ Probleme nun schon, das ziemlich einseitig verlief. Jocelyn Miller ließ sie kaum zu Wort kommen, was Kat mehr und mehr in Rage brachte. Und in Verlegenheit. Sie war düpiert. Ihr Sohn hatte sie düpiert.
Nach Auskunft der Rektorin hatte James am Mittwochmorgen das neue Klassenzimmer betreten, mit seiner alten Lunchbox in der Hand, über die sich ein Mitschüler namens Randy Speevey – ein neunmalkluges Bürschchen – sofort lustig gemacht hatte. James, einen halben Kopf größer als Randy, hatte sich daraufhin dessen Box geschnappt, sie geöffnet und anscheinend Gefallen an dem gefunden, was darin war. Er hatte Randy seine eigene Box zugeworfen, dessen Lunch gegessen und anschließend den Unschuldigen gespielt.
So auch an den nächsten beiden Tagen. Als Kat und später Lou ihn dabei ertappt hatten, wie er sein Schulbrot in der Tonne vorm Eingang verschwinden ließ, hatten sie gedacht, er wolle verhindern, von Mitschülern bestohlen zu werden. In Wirklichkeit hatte er sein Schulbrot weggeworfen, weil ihm das von Randy besser schmeckte. Die Rektorin meinte, das wäre wahrscheinlich so weitergegangen, wenn sich Randy Speevey ihm nicht widersetzt hätte. Sauer darüber, dass ihm das
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