Totennacht (German Edition)
Charlie Olmstead entführt wurde?»
«Ja», antwortete Glenn. «Zugegeben, ich habe Ihren Vater belogen. Mir blieb nichts anderes übrig. Ich musste es tun, der Nachbarn wegen.»
«Was haben Sie gesehen?»
«Setzen Sie sich», sagte Glenn. «Ich erzähle es Ihnen.»
Es war sonderbar, einen Bruder zu haben. Schön, aber sonderbar – wie ein wiederkehrender Tagtraum, der Wirklichkeit geworden war. Eric lächelte immerzu. Und weinte. Er fühlte sich überglücklich, gleichzeitig aber auch niedergeschlagen und bedrückt.
«Was soll ich sagen?», stammelte er. «Womit fange ich an?»
«Mit deiner Familie», schlug Charlie vor. «Bist du verheiratet? Hast du Kinder?»
«Geschieden. Keine Kinder. Und du?»
«Ebenfalls geschieden. Eine Tochter, die ich aber schon lange nicht mehr gesehen habe.»
So ging es hin und her im Austausch zweiundvierzigjähriger Erfahrungen und Informationen über Jobs, Wohnungen, Vorlieben und Abneigungen. Eric erfuhr, dass Charlie als Kfz-Mechaniker im Chester County arbeitete, Country-Musik liebte, Harleys und guten Bourbon. Im Gegenzug berichtete er Charlie von den Höhen und Tiefen einer Schriftstellerkarriere, seinem Leben in Brooklyn und den berühmten Leuten, mit denen er verkehrte. Sie sprachen über Unterschiede – Charlie war in der Highschool ein spitzenmäßiger Centerfielder gewesen, während Eric mit Sport überhaupt nichts im Sinn hatte – und Übereinstimmungen wie zum Beispiel die Tatsache, dass beide Exfrauen Laura hießen.
Schließlich kamen sie auch auf Erics Eltern zu sprechen, die Charlie nach wie vor Ken und Maggie Olmstead nannte.
«Ich habe gehört, dass Maggie nicht mehr lebt», sagte er. «Wie ist sie gestorben?»
Der Gedanke an seine Mutter stimmte Eric traurig. Was hätte sie darum gegeben, diesem Gespräch beiwohnen zu können und ihren letzten Wunsch erfüllt zu sehen.
«An Krebs. Ovarialkarzinom.»
«Tut mir leid. Sie war, wie ich mich erinnere, eine großartige Frau.»
«Woran erinnerst du dich sonst noch?», wollte Eric wissen.
Charlie dachte nach und strich sich dabei mit der Hand übers Kinn. Eric erkannte an ihm Züge des Jungen wieder, den er nur von alten Fotos her kannte. Die abstehenden Ohren, den melancholischen Blick oder das schiefe Lächeln, als er sagte: «An die Kekse von Mrs. Santangelo. Wohnen die beiden immer noch nebenan?»
«Ja», antwortete Eric. «Glenn Stewart ebenfalls.»
«Die Clarks sind schon lange tot, nicht wahr?»
«So ist es. Aber du –»
Eric unterbrach sich, da Charlie noch nicht wissen konnte, dass Mort und Ruth Clark die Eltern seiner leiblichen Mutter waren. Das zu sagen scheute er sich. Es würde sich noch eine passende Gelegenheit finden, Charlie über die Zeit zwischen seiner Geburt und seinem Weggang aufzuklären.
«Wusstest du, dass die Clarks einen Bunker in ihrem Garten hatten?», fragte Charlie.
«Tatsächlich?»
«Ja, daran erinnere ich mich auch. Ich habe als Kind oft darin gespielt. Und am Wasserfall. Mann, wie gern war ich auf der Brücke und habe ins Wasser geschaut.»
«Die Brücke gibt’s noch», sagte Eric.
Charlie strahlte. «Gehen wir hin?»
«Jetzt?»
«Ja. Komm.»
Charlie sprang vom Sofa auf und eilte auf die Hintertür zu. Eric folgte widerstrebend. Aber als sie im Garten waren und durchs Gras an Glenn Stewarts Grundstück vorbeiliefen, erwachte auch in ihm die Abenteuerlust.
Charlie war schneller auf den Beinen und schien sich in der unmittelbaren Umgebung immer noch besser auszukennen als er. Charlie wusste vom Bunker der Clarks und kannte die Stelle, an der Glenn seine Haustierchen bestattete. «Ich habe ihn einmal heimlich dabei beobachtet», sagte er und deutete auf den Fleck, den Eric in der Nacht zuvor umgegraben hatte.
Eric hatte Mühe, ihm zu folgen, was ihn ein wenig neidisch machte. Er war auch eifersüchtig darauf, dass Charlie so viel mehr wusste als er, gleichzeitig aber voller Bewunderung und froh darüber, dass er sein Wissen mit ihm teilte. Kurzum, zum ersten Mal in seinem Leben ahnte er, wie es sein musste, einen großen Bruder zu haben.
Sie liefen um Glenn Stewarts Haus herum und hörten schon das Wasser über die Klippen rauschen. Durch die Bäume erhaschte Eric einen Blick auf die weiß schäumenden Fluten, die in die Tiefe stürzten.
«Das war mein Schleichweg», sagte Charlie, als sie am Waldrand auf das Ende der Sackgasse trafen. «Da konnte mich niemand sehen.»
Da Eric den überwucherten Pfad vor kurzem erst betreten hatte, ging er voran, dicht
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