Totennacht (German Edition)
nichts zu tun.»
«Na schön», entgegnete sie. «Meinem Vater gegenüber haben Sie 1969 ausgesagt, in der Nacht, als der Junge verschwand, geschlafen zu haben. Ist das richtig?»
«Muss wohl so sein, wenn ich es gesagt habe.»
«Und Sie haben damals nichts Ungewöhnliches gesehen oder gehört?»
«Andernfalls hätte ich es gesagt.»
Er legte es offenbar darauf an, ihre Geduld zu strapazieren, damit sie endlich gehen würde. Was er nicht wusste, war, dass sie Mutter eines elfjährigen und manchmal schwierigen Jungen war. Geduld zählte zu ihren größten Stärken, und sie konnte Sturköpfigkeit in einem Maße ertragen, das andere Mütter zur Verzweiflung brachte.
«Warum haben Sie nicht wie alle anderen die Mondlandung im Fernsehen mitverfolgt?»
«Warum hätte ich das tun sollen?»
«Es war ein historisches Ereignis.»
«Es war Unsinn», konterte Glenn. «Menschen haben auf dem Mond nichts verloren.»
«Warum sagen Sie das?»
«Ob damals oder heute – solche Unternehmungen widersprechen Gottes Willen. Von allen Lebewesen auf der Erde bilden sich einzig und allein die Menschen ein, die Natur überwinden zu können, was natürlich falsch ist. Jeder Versuch, das Gegenteil zu beweisen, versündigt sich an Gottes Schöpfung.»
«Versündigt sich?»
«Ja», bestätigte Glenn. «An manche Dinge darf einfach nicht gerührt werden. Wäre es im Sinne Gottes, dass wir über den Mond spazieren, hätte er uns dazu befähigt.»
«Aber das hat er doch», erwiderte Kat. «Durch Wissenschaft und Technik.»
«Ich glaube, Sie beziehen sich auf einen anderen Gott. Macht nichts. Wir haben uns lange genug unterhalten. Guten Tag.»
Das Rollo ging wieder herunter und ließ Mr. Stewart mit seinem Frettchen im Arm hinter sich verschwinden. Bevor es sich ganz gesenkt hatte, rief Kat: «Ich habe noch eine Frage.»
Durch den Spalt zwischen Rollorand und Fenstersims tönte Glenn Stewarts Stimme: «Ja?»
«Was ist in Vietnam passiert?»
«Ich habe dort das Licht gesehen», antwortete Glenn.
Er senkte das Rollo gänzlich ab. Kat gab sich geschlagen und kehrte auf die Straße zurück, wo ihr im Vorgarten der Clarks das Zu-Verkaufen-Schild ins Auge fiel. Es wackelte im Wind und mit ihm das Foto von Ginger Schultz, der einzigen Immobilienmaklerin von Perry Hollow, pausbäckig und mit schlecht sitzender Dauerwelle.
Kat überquerte die Straße. Sie musterte das Schild, zog ihr Handy aus der Tasche und wählte die darauf angegebene Nummer. Ginger antwortete mit dem flotten Spruch: «Schultz Immobilien. Ich finde für Sie Ihr Traumhaus.»
Kein Bedarf, dachte Kat. Trotzdem gab sie sich interessiert und grüßte die alte Schulfreundin freundlich: «Ginger? Hier Kat Campbell. Da steht ein Haus zum Verkauf, das ich mir gern einmal ansehen würde.»
Ginger Schultz war die geborene Immobilienmaklerin. Überschwänglich pries sie alles, was in ihr Blickfeld geriet, ob Kats Uniform oder den Azaleenbusch vor dem ehemaligen Haus von Mort und Ruth Clark.
«Ein herrlicher Frühsommer, nicht wahr?», schwärmte sie und schloss die Eingangstür auf. «Wundervoll.»
Die kleine, pummelige Frau und Kat betraten ein völlig leer geräumtes Haus. Sogar die Farben waren entfernt worden. Ihre Schritte hallten von den Wänden wider, die mit frischem Weiß überstrichen waren.
«Aus diesen Räumen lässt sich einiges machen», sagte Ginger und führte Kat in ein Wohnzimmer, das kahl war wie eine Klosterzelle. «Vielseitig nutzbar, wie sie sind. Danach suchst du doch, nicht wahr? Versatilität. Ich wusste gar nicht, dass du dich für dieses Haus interessierst.»
Warum, wusste Kat selbst nicht so recht. Sie glaubte nicht, dass die Clarks irgendetwas mit dem Verschwinden von Charlie Olmstead oder einem der anderen Jungen zu tun gehabt hatten, geschweige denn, dass sie hier irgendwelche Hinweise finden würde. Eigentlich wollte sie nur wissen, welchen Blick die Clarks auf das Anwesen der Santangelos und Glenn Stewarts Haus gehabt hatten.
«James und ich würden uns gern verändern», log sie. «Wir brauchen mehr Platz.»
«Den hättet ihr hier in Hülle und Fülle. Ich bin sicher, ihr würdet euch in diesem Haus wohlfühlen.»
In der Küche schaute sich Kat zwischen den Einbauschränken um und warf, um Interesse vorzutäuschen, einen Blick unter die Spüle. Im Obergeschoss steuerte sie am Badezimmer vorbei auf die beiden Schlafzimmer zu. Das größere lag zur Straße hin und hatte zwei Fenster. Vor dem rechten war in schrägem Winkel das Haus der
Weitere Kostenlose Bücher