Totennacht (German Edition)
Unheimliches, und das galt für diese in besonderem Maße. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, ob Glenn Stewarts seltsame Art zu leben dazu beitrug oder ob er sich nur deshalb zum Einsiedler entwickelt hatte, weil diese Sackgasse nichts anderes zuließ.
Sie klopfte ein weiteres Mal und verließ schließlich die Veranda. Auf dem Weg zurück zur Straße warf sie einen Blick über die Schulter auf den baufälligen Klotz, den Glenn sein Zuhause nannte. Die absurde Größe und heftige Verwahrlosung erinnerte Kat an die Behausung der Addams Family. Doch die hätte es sich darin gutgehen lassen – mit einer Guillotine im Hof und einem Kessel mit siedend heißem Öl für ungebetene Gäste auf dem Dach. Mr. Stewart aber begnügte sich damit, sein Haus einfach nur verkommen zu lassen.
Kat watete durch knietiefes, von Insekten bevölkertes Gras und scheuchte ein Kaninchen auf, das es sich unter der Veranda gemütlich gemacht hatte. Grashüpfer schwirrten auf, und eine vollgefressene Strumpfbandnatter schlängelte sich auf die Bäume zu, die das Grundstück begrenzten.
Sie ging um das Haus herum. Auf der Rückseite war das Gras weniger hoch, das Getier weniger zahlreich, aber es war nicht so still wie vorn: Das Rauschen des Wasserfalls drang durch den Wald bis hierher. Kat konnte zwischen den Bäumen einen kleinen Ausschnitt herabstürzenden Wassers erkennen.
Viel gab es auf dieser Seite des Grundstücks nicht zu sehen – nur einen Holzstoß, eine Wäscheleine und ein kleines Gärtchen, das davon zeugte, dass Glenn Stewart zumindest manchmal nach draußen kam. Anscheinend hatte er auch einen Führerschein. Unter einer Pergola stand ein verrosteter VW-Bus, der schon bessere Tage gesehen hatte. Wenn auch nicht mehr fahrbereit, war er aber wohl irgendwann einmal bewegt worden.
Kat schaute nach oben auf die Dachveranda, die wie ein altmodisches Hütchen auf dem First thronte. Sie überragte die Baumwipfel und bot wahrscheinlich einen freien Blick auf den Wasserfall und die Brücke davor. Wäre Glenn in jener Nacht dort oben gewesen, hätte er Charlie Olmstead sehen können, als er zum Fluss radelte.
Aber der Polizei hatte er gesagt, im Bett gewesen zu sein, was natürlich niemand bezeugen oder widerlegen konnte. Es war also nicht auszuschließen, dass er den Jungen gesehen und ihm nachgestellt hatte.
«Was haben Sie da zu suchen?»
Kat fuhr vor Schreck zusammen, so laut war die Stimme.
«Mr. Stewart? Sind Sie’s?»
«Ich habe eine Frage gestellt.»
Zornig klang die Stimme nicht, dafür fehlte es ihr an Emotion. Sie war eher lahm und lustlos, fast so, als habe der Fragende mit Kats Auftauchen schon längere Zeit gerechnet. Sie schirmte mit der Hand die Augen ab und musterte sämtliche Fenster der drei Geschosse. Alle waren geschlossen, bis auf eines in der ersten Etage, das zwar offen stand, aber mit einem Rollo zugehängt war.
«Ich bin Chief Campbell von der hiesigen Polizei.»
«Ich weiß», erwiderte die Stimme. «Aber meine Frage haben Sie immer noch nicht beantwortet.»
«Ich bin hier, um mich mit Ihnen über Charlie Olmstead zu unterhalten.»
Das Rollo – vergilbt und spröde wie Pergament – ging langsam hoch. Mr. Stewart trat in Erscheinung, eine schattenhafte Gestalt ohne erkennbare Züge. Er hielt ein Tier in den Armen, größer als eine Katze, mit glattem braunem und weiß geflecktem Fell. Kleine Tatzen strampelten durch die Luft, und als das Tier den Kopf ins Licht streckte, sah Kat, dass es sich um ein Frettchen handelte.
«Ein schönes Tier haben Sie da.»
Der Schattenkopf im Fenster bewegte sich auf und ab. «Danke für das Kompliment.»
«Könnte ich reinkommen und es mir von nahem ansehen?»
«Nein.»
«Aber ich würde mich gern mit Ihnen unterhalten.»
«Geht auch so.»
Kat seufzte. «Kannten Sie die Olmsteads gut?»
«Nein. Sie wissen wahrscheinlich, dass ich keinen Wert auf Gesellschaft lege.»
«Warum nicht?» Kat wusste, dass es einen Grund dafür geben musste. Eine ausgeprägte Platzangst zum Beispiel oder irgendeine andere psychische Störung.
«Ist einfach so.»
«Gehen Sie denn nicht manchmal nach draußen?»
«Doch», antwortete Glenn. «Aber nicht tagsüber. Ich mache mir nichts aus Sonnenschein.»
«Wie kommen Sie an Ihre Lebensmittel?»
«Die werden mir jeden Dienstag vor die Tür gestellt. Kann Ihnen der Geschäftsführer von Shop-and-Save bestätigen.»
«Wann haben Sie das letzte Mal das Haus verlassen?»
«Chief Campbell, Ihre Fragen haben mit der Sache
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