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Totennacht (German Edition)

Totennacht (German Edition)

Titel: Totennacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Todd Ritter
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bis dorthin?»
    Tony blinzelte nach oben. «Gut zweihundert Meter, würde ich sagen.»
    «Wie alt waren die Großmutter und der Großvater?»
    «Sie war sechzig, er dreiundsechzig. So steht’s jedenfalls im Polizeibericht.»
    «Also in einem Alter, in dem nach Expertenmeinung das Sehvermögen abnimmt», sagte Nick. «Wenn es sich nicht schon vorher verschlechtert hat. Nehmen wir an, die beiden konnten nicht mehr besonders gut sehen. Hinzu kommt, dass der Schnee womöglich geblendet hat und eine Menge von Kindern in dunklen Schneeanzügen umeinandertollte.»
    Tony verstand sofort, worauf er anspielte. «Könnte sein, dass sie das falsche Kind im Auge hatten, als Noah mit einem Fremden die Szene verließ.»
    Für Nick stand fest, dass der Junge nicht mit Gewalt verschleppt worden sein konnte. Er hätte mit Schreien auf sich aufmerksam gemacht, was selbst halb blinden Großeltern aufgefallen wäre oder zumindest anderen in der Nähe.
    «Unser Mann muss sehr diskret vorgegangen sein», sagte Nick. «Leise und vorsichtig hat er den Jungen zu sich gelockt, vielleicht unter dem Vorwand, ein Freund der Familie zu sein.»
    Kidnappern war klar, dass Kinder Fremden in der Regel misstrauten, aber durchaus leutselig gegenüber solchen Personen waren, die ihre Eltern kannten. Behauptete ein Fremder, ein Freund der Eltern zu sein, standen die Chancen bei fünfzig Prozent, dass ihm ein Kind folgte.
    «Klingt plausibel», erwiderte Tony. «Aber wo könnte er ihn angesprochen haben?»
    Nick schaute an dem Lieutenant vorbei auf die baufällige Mühle am Seeufer. «An der Stelle, die als einzige in Frage kommt.»

    Aus der Nähe betrachtet, schien es, als würde schon eine mittelkräftige Windböe ausreichen, um das Gebäude einstürzen zu lassen. Ein Schild neben dem Eingang machte die Clinton-Regierung für die Stilllegung des Betriebs verantwortlich. An der Tür hing ein schweres Vorhängeschloss.
    Nick suchte nach anderen Einstiegsmöglichkeiten, fand aber keine. Es gab keine zweite Tür, und die erreichbaren Fenster waren viel zu klein, um hindurchzukriechen. Zu beiden Seiten des Gebäudes waren Eisengitter in das gemauerte Fundament eingelassen, durch die der Mühlbach floss. Man kam also auch nicht schwimmend hinein.
    «Was schlägst du vor?» Tony schaute Nick erwartungsvoll an. «Für eine Durchsuchung brauchen wir einen richterlichen Beschluss.»
    «Wir ermitteln in sechs Vermisstenfällen», entgegnete Nick. «Widerrechtliches Betreten ist eine Lappalie dagegen.»
    «Und wie wär’s mit mutwilliger Beschädigung?»
    Tony schob Nick beiseite, zog seine Dienstwaffe und gab zwei Schüsse auf das Vorhängeschloss ab. Der erste lädierte das Gehäuse schwer, der zweite zerfetzte, was davon übrig geblieben war. Wundersamerweise krachte das Gebäude nicht in sich zusammen. Nick deutete diesen Umstand als Einladung.
    Er öffnete die Tür und zerteilte mit seinem Stock das Spinngewebe, das wie ein Sicherungsnetz im Rahmen hing. Dahinter öffnete sich ein dunkler Raum, in dem es nach Moder und Vogelmist stank. Der Boden war übersät von welken Blättern und Federn. Eine Stiege an der Wand führte ins Obergeschoss. In der Ecke hinten links war direkt über dem Wasserkanal eine Falltür in den Boden eingelassen, vielleicht eine Art Vorgängermodell des modernen Müllschluckers.
    «Sieht gefährlich aus», sagte Tony. «Ich sollte wohl mal vorgehen.»
    «Kommt nicht in Frage», entgegnete Nick. Wenn sich einer auf morschen Dielen in Acht nehmen musste, dann war es Tony. Eher hätte Nick einen Elefanten über eine aus Zahnstochern gebaute Brücke geschickt. «Außerdem kenne ich mich mit alten Mühlen aus.»
    Unter seinem ersten Schritt knarrten die Dielenbretter nicht nur, sie schrien förmlich. Trotzdem tastete er sich vorsichtig weiter und blieb erst in der Mitte des Raumes stehen. Die Lücken zwischen den Brettern, auf denen er stand, waren so breit, dass er das Wasser im Kanal darunter sehen konnte. In dem eingezogenen Zwischenboden über ihm klafften große Löcher, durch die er bis zu den morschen Sparren des kaputten Dachs blicken konnte.
    Dass eine solche Ruine auf Kinder faszinierend wirkte, konnte Nick gut nachvollziehen. Eine schönere Abenteuerburg gab es nicht, jedenfalls keine, die über einem Kanal schwebte und den Himmel erkennen ließ. Ganz zu schweigen von den Klettermöglichkeiten, den versteckten Winkeln, die es zu erforschen galt, und dem Reiz des Verbotenen. Es dürfte nicht schwer gewesen sein, Noah Pierce

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