Totennacht (German Edition)
gesprungen. Er stand hinter Nick und hievte ihn in die Höhe, auf die zerbrochene Falltür zu, durch die er gestürzt war. Von Tony gestützt, griff er in den Rahmen und stemmte sich aus eigener Kraft in Sicherheit. Tony folgte dichtauf.
Erschöpft und die Unterschenkel noch im Wasser, ließen sich beide neben der Luke auf den Rücken fallen. Keuchend gingen ihre Brustkästen im Gleichtakt auf und ab. Als Nick wieder sprechen konnte, sagte er: «Da unten liegt ein Skelett.»
Überrascht richtete sich Tony auf. «Im Ernst?»
«Ja, und ich bin mir ziemlich sicher, dass es die Reste von Noah Pierce sind.»
17
Kat parkte vor der Schule. Ausnahmsweise war sie früh dran. Sie warf einen Blick auf die Uhr, sah, dass ihr noch eine Viertelstunde Zeit blieb, und lehnte sich in Gedanken an den Olmstead-Fall zurück. Um besser entspannen zu können, schaltete sie das Radio ein, das gerade die neuesten Nachrichten brachte.
«Den drei chinesischen Astronauten geht es so weit gut», berichtete eine Frauenstimme in der gehetzten Diktion, die von Nachrichtensprechern offenbar verlangt wurde. «Laut Auskunft von NASA-Mitarbeitern, die der chinesischen Weltraummission beratend zur Seite stehen, verlief auch der zweite Reisetag nach Plan. Wann die Fähre auf dem Mond aufsetzen soll, ist noch nicht ganz klar. Einer Erklärung des staatlichen chinesischen Fernsehens zufolge ist frühestens am Freitagnachmittag unserer Zeit damit zu rechnen.»
Kat wechselte den Sender und ließ sich von Musik der achtziger Jahre beschallen, die Nick wahrscheinlich schrecklich gefunden hätte. Sie wollte von dem Flug zum Mond in diesem Moment nichts wissen und nicht daran erinnert werden, dass sie in ihren Ermittlungen nicht weiterkam. Außerdem bereute sie es, die Aushebung von Charlies Grabstelle auf die kommende Nacht terminiert zu haben.
Sie hatte geglaubt, damit eine kluge Entscheidung getroffen zu haben. Carl Bauersox würde zur Stelle sein und ihr helfen können, und nachts wären sie vor neugierigen Zaungästen sicher.
Natürlich konnte sie noch nicht wissen, was in wenigen Stunden auf dem Oak Knoll Cemetery ausgegraben werden würde. Aber sie hoffte inständig auf nützliche Hinweise, die sie weiterbrachten. Dass Nick zwischenzeitlich bei seinen Ermittlungen mehr Glück hatte, bezweifelte Kat. Sie hatte nach Mittag zweimal versucht ihn anzurufen, ihn aber nicht erreicht und stattdessen nur eine Textnachricht von ihm erhalten: Tony ist da! Fuck!
Sie kramte ihr Handy hervor und gab gerade zum wiederholten Mal Nicks Nummer ein, als es an der Scheibe klopfte. Es war Jocelyn Miller, die Rektorin der Grundschule von Perry Hollow, eine spindeldürre Frau in grauem Hosenanzug. Mit einer Handbewegung forderte sie Kat auf, die Scheibe herunterzudrehen.
«Tut mir leid, wenn ich störe, Chief, aber ich müsste ein paar Worte mit Ihnen reden.»
In ihrer Eigenschaft als Polizistin wurde Kat manchmal darum gebeten, den Schülern einen Vortrag zu den Themen Ordnung und Sicherheit oder über die Aufgaben der kommunalen Polizei zu halten. Mitunter musste sie auch ungezogenen Kindern, denen mit anderen Mitteln nicht beizukommen war, ein bisschen Angst einjagen. Außerdem gab es da noch die alljährlich stattfindende Schülerversammlung, in der vor Missbrauch und Übergriffen gewarnt wurde. Für die nächste Veranstaltung dieser Art hatte sich Kat bereits vorgenommen, Maggie Olmsteads Sammlung von Zeitungsausschnitten als Anschauungsmaterial mitzubringen. Wenn etwas die Kinder erreichte, dann das.
«Kein Problem», erwiderte Kat. «Geht’s um die Versammlung?»
«Nein, um James. Ich weiß, er hat vergangenen Oktober viel durchmachen müssen.»
«So ist es», sagte Kat. «Aber seine Therapeutin meint, er sei über das Schlimmste hinweg.»
«Gut zu hören.»
Die Rektorin zeigte sich jedoch alles andere als erleichtert. Ihre Miene veranlasste Kat, das Radio auszuschalten und sich aufzurichten. «Stimmt was nicht?»
«Möglicherweise», entgegnete Jocelyn. «Ist Ihnen an seinem Verhalten in letzter Zeit irgendetwas aufgefallen?»
Über eine Antwort brauchte Kat nicht lange nachzudenken. James verhielt sich in der Tat merkwürdig. Er war still, niedergedrückt, und dann waren da noch die angeblich verlorene Lunchbox und das am Morgen weggeworfene Mittagessen.
«Ja», antwortete Kat. «Irgendetwas macht ihm zu schaffen, seit die Schule wieder angefangen hat. Was ist Ihnen aufgefallen?»
«Wir glauben, er hat Probleme.»
«Womit?»
«Mit einem
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