Totennacht (German Edition)
jedes Kind. Aus dem für eines ein Albtraum wurde. Denn irgendjemand, unerkannt in Parka, Skimütze und Handschuhen, hatte etwas anderes im Sinn als unschuldiges Tollen im Schnee. Und er hatte wegen der gescheiterten Apollo-13 -Mission lange, sehr lange warten müssen.
Am steinigen Ufer angekommen, schwappten kleine Wellen bis an ihre Schuhe heran. Das Ufer auf der gegenüberliegenden Seite schien etwa anderthalb Kilometer weit entfernt zu sein. Bis dorthin würde kein Schlitten gleiten, egal, wie schnell er auch den Abhang hinuntergerast sein mochte. Der Entführer von Noah Pierce musste also in unmittelbarer Umgebung zugeschlagen haben.
«Erzähl, was du inzwischen in Erfahrung gebracht hast», sagte Nick.
Er setzte sich auf einen Felsbrocken, streckte die Beine aus und hörte Tonys Zusammenfassung seiner Recherchen zu. Noah Pierce, neun Jahre alt und einziges Kind, war von seinen Eltern, die in Scheidung lebten und einen Rosenkrieg führten, zu den Großeltern nach Fairmount geschickt worden. An jenem verhängnisvollen Freitag waren alle drei in den Lasher Mill State Park hinausgefahren – mit einer Thermosflasche voll heißer Schokolade im Gepäck und einem Schlitten auf dem Dach ihres Kombis. Die Großeltern blieben der eisigen Kälte wegen im Wagen, den sie mit Blick auf den See geparkt hatten, und schauten dem Jungen beim Rodeln zu.
«Aber dann haben sie ihn aus den Augen verloren», sagte Tony, was sich Nick natürlich hatte denken können. So fingen schließlich die meisten Entführungsgeschichten an. «Der Junge trug einen schwarzen Schneeanzug. Wie fast alle anderen Kinder auf dem Rodelhang auch.»
Die Großeltern, fuhr Tony fort, seien ausgestiegen und hätten nach dem Jungen gesucht, unterstützt vom Parkaufseher und anderen. Gefunden habe man nur den Schlitten, verwaist in der Nähe der Getreidemühle.
«Es war schon dunkel geworden», berichtete Tony, «als der Parkaufseher Stunden später mit einem Schneemobil auf den zugefrorenen See hinausfuhr und rund vierhundert Meter vom Ufer entfernt ein Loch im Eis entdeckte. Man vermutete deshalb, Noah sei dort eingebrochen und ertrunken.»
«Ende der Geschichte?», fragte Nick.
«Nicht ganz. Die Polizei begann an dieser Version zu zweifeln, als es Frühling wurde, der See auftaute und keine Leiche zum Vorschein kam.»
Nick schüttelte den Kopf. Die gleiche Geschichte wie bei Charlie Olmstead, nur dass hier kein Wasserfall im Spiel war, sondern ein zugefrorener See.
«Du sagtest, die Eltern hätten einen Rosenkrieg geführt. Geht der Bericht darauf ein?»
«Es hat keinen Streit um das Sorgerecht gegeben, wenn du das meinst.»
Genau daran hatte Nick gedacht. Eine Vielzahl von Entführungen ging auf das Konto von Eltern, die sich in der Hinsicht nicht einigen konnten. Manche flohen mit den gekidnappten Kindern außer Landes und machten Schlagzeilen, die meisten Fälle wurden jedoch von der örtlichen Polizei geklärt. Im Fall Noah Pierce blieb diese Frage offen.
«Beide Elternteile hielten sich zu dieser Zeit in Florida auf», erklärte Tony. «Das bezeugten Freunde, Kollegen und die Scheidungsanwälte.»
«Und die Großeltern?»
«Die waren sauber. Zeugen sagten aus, dass sie mit Noah das Fahrzeug verlassen hätten, um ihm seinen Schlitten und die heiße Schokolade zu geben, und dann wieder eingestiegen seien. Erst nach einer Stunde fiel ihnen auf, dass ihr Enkel verschwunden war.»
«War kein Bekannter zugegen?», fragte Nick.
«Nein.»
«Dann war der Entführer also ein Fremder. Was ist der Polizei dazu eingefallen?»
«Sie ging weiter davon aus, dass der Junge ertrunken ist.»
Nick konnte ihr keinen Vorwurf machen. Wie hätte sie darauf kommen sollen, dass ein Geistesgestörter sein Unwesen trieb, der auf kleine Jungs aus war und ein unnatürliches Interesse an den Terminplänen der NASA hatte? Außerdem herrschten damals in Amerika ganz andere Verhältnisse. 1971 hatte man noch den Nachbarn vertraut und auch nachts die Haustür getrost unverriegelt gelassen. Kinder mussten nicht vor Fremden gewarnt werden, und auf Milchtüten waren nicht die Gesichter von Vermissten abgedruckt.
«Wir haben also einen Rodelhang voller Kinder mit einer fremden Person in deren Mitte», resümierte Nick. «Und abends waren ein Kind und die fremde Person verschwunden.»
«Was glaubst du, wie so etwas unbemerkt geschehen konnte?»
Nick mühte sich mit Hilfe seines Stocks auf die Beine und blickte zum Parkplatz hinauf, wo Tonys Auto stand. «Wie weit ist es
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