Totennacht (German Edition)
Klassenkameraden», sagte Jocelyn. «Er wird gemobbt.»
Kat blieb nach außen hin ruhig, spürte aber, wie sich ihr der Magen zusammenzog. Seit James’ Einschulung war sie auf diese Möglichkeit gefasst gewesen; nun bestätigte die Rektorin, was Kat immer schon befürchtet hatte.
«Mit welchem Klassenkameraden?»
Jocelyn schüttelte den Kopf. «Darauf möchte ich nicht antworten.»
«Ich könnte mit ihm und seiner Familie reden. Immerhin bin ich Polizistin.»
«Ebendeshalb kann ich den Namen nicht nennen.»
Jocelyns Körperhaltung sprach Bände. Sie hatte die Hände wie zum Gebet vor der Brust gefaltet und schien mit aller Entschlossenheit verhindern zu wollen, dass Kat dem Jungen den Kopf wusch. Denn genau das hatte Kat vor.
«Können Sie mir wenigstens sagen, was passiert ist?»
«Leider nein. Beide, James und dieser Junge, schweigen sich aus. Es scheint, dass es um gestohlene Lunchpakete geht.»
Das erklärte, warum James am Morgen seines in der Mülltonne hatte verschwinden lassen. Als vorbeugende Maßnahme, um zu verhindern, ein weiteres Mal bestohlen zu werden. Und damit stand auch fest, dass er gelogen hatte, als er am Vortag behauptet hatte, seine Lunchbox verloren zu haben. In Wirklichkeit war sie ihm abgenommen worden, wahrscheinlich weil Lunchboxen unter Fünftklässlern nicht mehr angesagt waren. Und doch hatte Kat darauf bestanden, ihm eine solche Box mitzugeben, was ihr jetzt ein schlechtes Gewissen bereitete.
«Was soll ich machen?»
«Reden Sie mit ihm», empfahl Jocelyn. «Vielleicht erleichtert es ihn, wenn er darauf angesprochen wird und Ihnen anvertrauen kann, was er aus Scham oder Angst von sich aus nicht zur Sprache bringen kann.»
Kat wartete bis zum Abendessen, ehe sie Jocelyn Millers Rat befolgte. Sie hatte schon eine Weile schweigend am Tisch gesessen, als es aus ihr herausplatzte: «Gibt’s Probleme in der Schule?»
James hatte sich gerade eine Gabel voll Kartoffelpüree in den Mund gesteckt und schüttelte den Kopf.
«Bist du sicher?», hakte Kat nach.
«Ja. Ehrlich», antwortete James, einen Rest Püree noch auf der Zunge.
So viel zur Theorie der Rektorin, wonach Kinder auf Probleme angesprochen werden wollten.
«Du kannst mir ruhig alles sagen, kleiner Bär. Wenn irgendetwas nicht stimmt, ist es besser, du erzählst mir davon.»
«Alles in Ordnung.»
Zu Kats Beruf gehörte es, Wahrheit und Lüge voneinander zu unterscheiden. Was nicht immer einfach war. Lügner mieden Blickkontakt. Sie verzogen keine Miene, wenn sie sprachen, und versuchten krampfhaft, glaubwürdig zu klingen. James zeigte mit seiner Reaktion jedes dieser drei Merkmale. Also fragte sie ein letztes Mal.
«Ganz ehrlich? »
«Ganz ehrlich.»
«Dann erzähl mir doch mal, wie’s in der fünften Klasse so läuft. Gestern hast du nicht viel gesagt.»
«War ja auch kaum möglich.»
Wieder regte sich ihr schlechtes Gewissen. Am Abend zuvor hatte sie sich am Esstisch fast ausschließlich mit Nick über den Olmstead-Fall unterhalten, was ihren Sohn ausgesprochen gelangweilt haben musste.
«Jetzt hast du die Gelegenheit dazu. Ich bin ganz Ohr.»
«Es ist anders», antwortete James.
«Inwiefern? Schwerer? Macht dir irgendetwas Angst?»
Ihr war klar, dass sie zu viele Fragen auf einmal stellte, doch vor lauter Freude darüber, dass sich James zu öffnen schien, konnte sie sich kaum bremsen.
«Schwerer, vielleicht», gab James zu. «Jedenfalls Mathe.»
Kats Handy, das die ganze Zeit über still geblieben war, fing plötzlich an zu vibrieren. Es lag eine Armeslänge von ihr entfernt auf dem Tisch und ließ nun das Besteck klirren. Sie ignorierte es, obwohl wahrscheinlich Nick auf ihren Anruf zu antworten versuchte.
«Sorgst du dich, dass du nicht mitkommst?», fragte sie James.
«Ich werd’s schon packen.»
Das Handy glitt zitternd auf sie zu. Sie musste an sich halten, um es nicht doch aufzunehmen. Stattdessen beugte sie sich über den Tisch und warf einen Blick aufs Display. Aber der Anrufer, wer immer es gewesen war, hatte in diesem Moment aufgegeben. Name oder Nummer waren nicht mehr zu sehen. Das Handy lag wieder still auf der Stelle.
«Und die anderen Fächer?», fragte sie. «Bio zum Beispiel. Lernst du da was Spannendes?»
«Hoffentlich. Wir werden einen Frosch auseinanderschneiden.»
Wieder erwachte ihr Handy zum Leben. Es bewegte sich zitternd auf ihren Ellbogen zu. Den Anrufer schien es sehr zu drängen, mit ihr zu sprechen. Sie musste drangehen.
«Tut mir leid, Schatz», sagte sie.
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