Totennacht (German Edition)
eigenes Bein und wie es wohl nach vierzig Jahren unter Wasser aussehen würde. Wahrscheinlich steckten auch dann noch die Titanstifte im Knie. Jedenfalls hätte jemand wie Lucy Meade an ihm ein paar Rätsel zu lösen.
«Bei Kindern», fuhr sie fort, «gibt es in der Regel weniger oder überhaupt keine Knochenbrüche festzustellen. Das Schlimme ist nur ...»
Nick kam ihr zu Hilfe: «... dass wir es hier überhaupt mit einem Kind zu tun haben.»
Lucy blickte auf und lächelte traurig. «Ja, genau.»
Sie setzte ihre Untersuchung der Knochen fort, betastete mit Daumen und Zeigefinger den rechten Oberschenkel, Schien- und Wadenbein sowie die Fußknochen. Auf der anderen Seite des Tisches ging sie am linken Bein in umgekehrter Reihenfolge vor.
«Mr. Donnelly», sagte sie, «ist das einer der ungelösten Fälle, mit denen sich Ihre Stiftung beschäftigt?»
Nick, der ihr bei der Arbeit zugesehen hatte, schaute ihr jetzt ins Gesicht, das ohne Ausdruck war, die Augen vor Konzentration leicht blinzelnd. Hätte sie zu ihm aufgeblickt, wäre ihr die Überraschung aufgefallen, mit der er auf ihre Frage reagierte.
«Nicht direkt. Auf diesen Fall sind wir rein zufällig gestoßen», antwortete er.
«Und deshalb assistieren Sie der State Police.»
«So ist es.»
Erst jetzt fasste Lucy ihn ins Auge. «Ich habe von Ihnen und Ihrem Engagement in der Zeitung gelesen. Bewundernswert, was Sie leisten. Bei Bedarf können Sie sich immer an mich wenden. Es wäre mir eine Ehre, Ihnen auch in Zukunft zu helfen.»
«Danke, das weiß ich zu schätzen.»
«Ich würde bei Gelegenheit auch gern mal ein Glas mit Ihnen trinken», fügte Lucy hinzu.
Tony, der hinter ihr stand, zeigte mit beiden Daumen nach oben, worauf Nick allerdings nicht einging, weil Lucy ihn im Blick hatte. Im Stillen aber nahm er sich fest vor, sie anzurufen, sobald der Fall gelöst war.
«Ich werde Sie an Ihr Angebot erinnern», sagte er.
Lucy reagierte nicht. Sie hatte all ihre Aufmerksamkeit auf die geballte Faust gerichtet und beugte sich so tief darüber, dass sie die Knöchelchen fast mit der Nase berührte.
«Wenn ich mich nicht irre, steckt da was drin», sagte sie.
Sie nahm das Handgelenk in die linke Hand und machte sich daran, mit der rechten die Finger aufzubiegen, zuerst den kleinen. Die Knacklaute, die dabei entstanden, ließen Nick vor Abscheu zusammenfahren. Als der Finger gestreckt war, forderte sie ihn auf, Gummihandschuhe anzuziehen.
«Halten Sie ihn hier am Mittelglied runtergedrückt», sagte sie.
Nick tat, was sie von ihm verlangte, und sah, wie sie sich am Ringfinger zu schaffen machte, der plötzlich an der Knochenbasis abbrach und klappernd auf den Tisch fiel.
«Scheiße.»
«So kann man’s auch machen», bemerkte Nick.
Lucy runzelte die Stirn. «Ich wollte es aber anders haben.»
Obwohl sichtlich in Verlegenheit geraten, zögerte sie nicht, den Mittelfinger zu strecken. Wieder knackte es, lauter noch als beim kleinen Finger. Auch diesen musste Nick festhalten, während sie sich den Zeigefinger und schließlich den Daumen vornahm.
Was endlich in der geöffneten Hand zum Vorschein kam, war auf den ersten Blick nicht zu identifizieren. Über die Jahrzehnte hatte sich eine Kruste aus Schlamm und Algen darauf gebildet. Als Lucy es von den Mittelhandknochen löste, blieb dunkler Schmier darauf zurück.
«Ziemlich schwer für seine Größe», sagte sie.
Sie ging zum Spülbecken und hielt den Gegenstand unter fließendes Wasser. Dann nahm sie eine Handbürste zu Hilfe. Die Kruste löste sich in kleinen Bröckchen, die klirrend ins Becken fielen. Als sie fünf Minuten später fertig war, drehte sie sich um und hielt den Gegenstand in die Höhe.
«Was ist das?», fragte Nick.
«Ich habe keine Ahnung.»
Nick nahm ihr das Ding aus der Hand und musterte es, ein längliches Teil, das in der Tat schwerer war als gedacht. Hätte er raten müssen, aus welchem Material es bestand, wäre ihm als Erstes Eisen in den Sinn gekommen. Aber er musste nicht raten.
«Es ist eine Modellrakete», sagte er.
Die Lackierung war verschwunden, übrig geblieben war nur eine spitz zulaufende Stange mit zwei flossenförmigen Vorsprüngen am unteren Ende. Aber nicht Größe und Form verrieten Nick, worum es sich handelte, sondern die fein säuberlich auf der Seite eingravierten Buchstaben.
Er hielt die Rakete ans Licht, sodass auch Tony und Lucy einen Blick darauf werfen konnten. Zu erkennen waren ein Vor- und ein Nachname.
Dennis Kepner.
20
Nach dem,
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