Totennacht (German Edition)
haben miteinander telefoniert.» Zu Tonys Enttäuschung richtete sie den Blick wieder auf Nick. «Und wer sind Sie?»
«Nick Donnelly. Ich assistiere in diesem Fall.»
«Wenn Sie nur assistieren», blaffte Lucy, «lassen Sie bitte Ihre Finger von den Knochen.»
Ihre verbale Inbesitznahme des Skeletts gab Nick unmissverständlich zu verstehen, dass sie die von Gloria Ambrose bestellte Gerichtsmedizinerin war. Jünger als erwartet – höchstens Anfang dreißig –, schien sie auch viel zu hübsch für ein solches Amt. Sie hatte blaue Augen, kastanienbraunes Haar, das zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst war, trug Jeans und ein CIA-T-Shirt.
«Sie waren bei der CIA?», fragte Nick.
Lucy nahm einen weißen Laborkittel vom Haken neben der Tür und versteckte das Shirt darunter. «Ja, aber nicht bei dem Laden, den Sie im Sinn haben.»
«Gibt’s denn noch einen anderen?»
«Das Culinary Institute of America», antwortete sie. «Ich wollte Köchin werden.»
«Was ist passiert?»
«Knochen interessieren mich einfach mehr.»
Mit einem Schlenker aus dem Handgelenk scheuchte sie Nick vom Tisch weg, trat an seine Stelle und betrachtete das Skelett.
«Ein Junge», sagte sie. «Ich schätze mal, er war nicht älter als elf.»
Nick war beeindruckt. «Woran sehen Sie das?»
«An den Schambeinen.» Sie zeigte auf zwei Knochen, die an Schmetterlingsflügel erinnerten. «Die Symphyse zeigt keinerlei Abnutzungserscheinungen, das heißt, das Skelett gehört jemandem, der sehr jung starb, und die Beckenknochen sind eindeutig männlichen Geschlechts.»
«Klingt ganz danach, dass wir unseren Jungen gefunden haben», sagte Tony, der sein Hemd übergezogen hatte und an den Tisch kam.
«Und wer ist ‹Ihr Junge›?», fragte Lucy Meade und zeichnete mit den Fingern Gänsefüßchen in die Luft, was Nick eigentlich nicht leiden konnte, in ihrem Fall aber durchaus charmant fand, denn sie war nicht nur hübsch, sondern auch gescheit und selbstbewusst.
«Noah Pierce», antwortete er. «Neun Jahre alt und seit 1971 als vermisst gemeldet.»
«Wo haben Sie ihn gefunden?»
«Im Wasser unter einer Mühle in dem Park, wo er auch verschwand.»
«Ein Zahnmediziner wird das Gebiss mit etwaigen Unterlagen vergleichen müssen», sagte Lucy. «Aber ich glaube, wir können uns schon darauf festlegen: Es ist Ihr Junge.»
«Lässt sich noch klären, woran er gestorben ist?», fragte Nick.
Auch er ging davon aus, dass die aus dem Wasser gezogenen Knochen so gut wie identifiziert waren. Was ihn aber vor allem interessierte, war die Frage, wer den Jungen getötet hatte und warum. Darauf konnte Lucy natürlich keine Antwort geben, wohl aber auf die Frage nach der Todesursache.
«Vielleicht.» Lucy ließ die Knochen nicht aus den Augen und betrachtete sie wie ein Werk von Picasso – neugierig, forschend, prüfend. «Hängt davon ab, wie er getötet wurde. Sie haben ihn im Wasser gefunden. Er könnte also ertränkt worden sein.»
Auf diesen Gedanken waren Nick und Tony auch schon gekommen, als sie sich auf der Fahrt vom Lasher Mill State Park im Heck eines CSU-Lieferwagens notdürftig abgetrocknet hatten. Beiden war aber auch klar, dass Serienmörder ihre Opfer nur in den seltensten Fällen ertränkten – aus dem simplen wie entsetzlichen Grund, dass sie daran keinen Gefallen zu finden schienen. Wurde das Opfer eines Serientäters im Wasser aufgefunden, war es aller Wahrscheinlichkeit nach letztlich dort hinterlassen, aber zuvor auf andere Art und Weise getötet worden.
Lucy streifte Gummihandschuhe über, nahm den Schädel zur Hand und betrachtete ihn von allen Seiten.
«Anzeichen für eine Schädelfraktur oder -prellung sehe ich keine», sagte sie. «Ich werde mir die Sache natürlich noch genauer ansehen, aber auf den ersten Blick scheint es, dass der Kopf unverletzt geblieben ist.»
Lucy legte den Schädel wieder so vorsichtig ab, wie sie ihn aufgenommen hatte. Dann stellte sie sich vor die Längsseite des Tisches, streifte eine Haarsträhne hinters Ohr und beugte sich über die Knochen. Mit scharfem Blick musterte sie Rippe um Rippe.
«Wonach suchen Sie?», fragte Nick.
«Nach Spuren, die von einer Waffe stammen könnten. Wenn ein Messer im Spiel war, sind womöglich Schnittwunden zurückgeblieben. Bei Opfern, die erschossen wurden, findet man manchmal typische Ausfräsungen. Nur gut, dass wir es hier mit einem noch jungen Skelett zu tun haben, also ohne altersbedingte Schäden, die irreführen könnten.»
Nick dachte an sein
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