Totennacht (German Edition)
von den jeweiligen Ehepartnern. Der ihre ließ sich scheiden, während seine Frau einem Krebsleiden erlag. Marcy Pulaski und Bill Mason senior hatten danach nur noch einander.
Nick hatte schon romantischere Geschichten gehört, doch auf Romantik schien das ältere Paar keinen Wert zu legen. Sie sahen ihre Beziehung mit klarem Blick – als eine zwischen zwei Menschen, vereint durch Verlust, Trauer und die vage Hoffnung, ihre Söhne vielleicht irgendwann einmal wiederzusehen. Sie teilten sich nun die verbliebene Haushälfte und mussten eng zusammenrücken.
Die Wände hingen voll mit Fotos von Frankie Pulasky und Bucky Mason, als hätten die beiden einst einer einzigen glücklichen Familie angehört. Einen ähnlichen Mix bildeten die aus beiden Haushalten zusammengetragenen Möbel. Auf allen Oberflächen lag ein dünner grauer Film, den Nick anfangs für Staub gehalten hatte. Erst als er mit dem Finger über den Teetisch strich, stellte er fest, dass es sich um Ruß handelte.
«Wann ist es zu dieser Brandkatastrophe gekommen?»
«In den frühen Sechzigern», antwortete Bill hustend. «Das genaue Datum kennt keiner.»
«Und wie ist das Feuer ausgebrochen?»
Marcy klärte Nick darüber auf, dass Centralia auf eine geschlossene Anthrazitmine gebaut worden war. Was nicht weiter überraschte, da die ganze Gegend als der Kohlenpott Pennsylvanias bekannt war. Es überraschte Nick jedoch zu hören, dass die Anwohner in den leeren Schächten ihren gesamten Abfall deponiert hatten.
«Eines Tages», berichtete Marcy, «fing der Müll an zu brennen.»
Sie sagte, das Feuer habe auf eine Anthrazitmine übergegriffen und gewaltige Ausmaße angenommen. «Die Stadt war nicht mehr zu retten. Aber das wussten wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht.»
«Es hat unzählige Löschversuche gegeben», ergänzte Bill. «Aber die sind allesamt gescheitert. Das Feuer war einfach zu groß.»
Nick erfuhr, dass sich die Bewohner von Centralia in den Folgejahren mit den Gegebenheiten zu arrangieren versucht hatten. Das Leben war wie gewohnt weitergegangen, mit Schule, Kirche, Arbeit und Freizeit. Derweil wurde der Untergrund immer wärmer. Im Winter blieb auf den Straßen und Gehwegen kein Schnee mehr liegen. Aber davon ließ man sich nicht beirren.
«Das erste Loch öffnete sich 1971», sagte Bill. «Es war plötzlich da, ein großer rauchender Krater im Garten eines Nachbarn.»
Marcy schloss die Augen und schüttelte in schrecklicher Erinnerung langsam den Kopf. «Kurz danach tat sich das zweite auf. Und dann noch eins.»
Der ausufernde Schwelbrand führte zu einer um sich greifenden Korrosion des Untergrundes. Der durch die Risse im Boden eindringende Sauerstoff schürte das Feuer, das neue Risse entstehen ließ, die ihrerseits das Feuer weiter anheizten. Und diesem Teufelskreis drohte schließlich die ganze Stadt zum Opfer zu fallen.
«Die meisten packten ihre Sachen und machten sich aus dem Staub», sagte Marcy. «Auch mein Mann und ich dachten daran zu gehen. Aber wir wussten nicht, wohin. Wir kannten nichts anderes als unsere Stadt. Natürlich machten wir uns Sorgen um Frankie und seine Sicherheit ...»
Sie unterbrach sich, um ein Schluchzen zu unterdrücken. Als Bill senior ihre Hand ergriff, dachte Nick, eine so zärtliche Geste schon lange nicht mehr gesehen zu haben. Vielleicht hatten Kummer und Leid die beiden zusammengeführt, aber dass sie nun in wahrer Liebe verbunden waren, zeigte sich deutlich.
Marcy fasste sich und fuhr fort: «Eines Tages ging er zum Spielen nach draußen. Ich sagte, er solle im Hof bleiben, denn mir war klar, wohin er wollte – zu den Senklöchern.»
«Waren die denn nicht abgedeckt oder abgesperrt?»
«Manche waren viel zu groß, um sie abdecken zu können», erklärte Marcy. «Es standen nur Warnschilder davor und ein paar Behelfszäune. Aber davon ließen sich die Kinder nicht aufhalten.»
Bill nickte zustimmend. «Die Jungs in der Stadt wurden von jedem neuen Loch wie magnetisch angezogen. Bucky auch.»
Nick zweifelte nicht daran, dass er als Kind genauso neugierig auf diese schmauchenden Krater gewesen wäre, auf Gefahr und Abenteuer in einer ansonsten trostlosen Bergarbeiterstadt. Er stellte sich vor, wie Kinder in Scharen um ein solches Loch herumstanden, Steine in die Tiefe warfen und sich in Mutproben möglichst nah an den Abgrund herantasteten. Vielleicht hatten Frankie und Bucky zu viel gewagt, dachte Nick, was er aber selbst nicht glaubte.
«Sie fürchteten also, Frankie sei in ein
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