Totennacht (German Edition)
es könnte einer unserer Nachbarn gewesen sein? Nie im Leben.»
«Wie können Sie so sicher sein?», fragte Nick. «Wer hat in der anderen Haushälfte gewohnt?»
«Jede Menge Leute, meine Mieter. Die meisten blieben nur für kurze Zeit. Jung Verheiratete, ledige Väter, kleine Familien und so weiter.»
Mit anderen Worten: Leute, die auch in einem der Reihenhäuser in Fairmount hätten wohnen können. Nick öffnete seine mentale Datenbank und suchte darin nach Kats anfänglicher Reaktion auf das direkte Umfeld der vermissten Jungen. Sie glaubte, dass der Täter sowohl in Fairmount als auch in Centralia eine Zeitlang gelebt hatte, in jenen Orten, in denen jeweils zwei Jungen verschwunden waren. Als Nächstes griff Nick noch tiefer in die imaginäre Akte und führte sich die Jahreszahl vor Augen. Die Jungen aus Fairmount – Dennis Kepner und Noah Pierce – verschwanden 1969 beziehungsweise 1971. Frankie und Bucky verschwanden beide 1972. Es war durchaus möglich, dass ihr Entführer in dieser Zeit von Fairmount nach Centralia umgezogen war.
«Wo haben Marcy und ihr Mann damals gewohnt?»
«Zwei Häuser weiter unten», antwortete Bill. «Auf derselben Straßenseite.»
«Auch in einer Doppelhaushälfte?»
«Nein, Sir. Es gab sonst keine Doppelhäuser hier.»
Nick neigte eigentlich nicht zu schnellen Schlüssen, aber Bill Masons Aussage verführte ihn nun dazu.
«Wissen Sie noch, wer Ihr Mieter war, als Frankie verschwand?»
«Ich erinnere mich nur vage», erwiderte Bill. «Ich weiß aber noch, dass er sehr hilfsbereit war und sich intensiv an der Suche beteiligt hat. Er hat auch geholfen, die Handzettel zu drucken, und war sehr nett zu uns, zu mir und meiner Frau.»
«Hat er auch noch bei Ihnen gewohnt, als Monate später Bucky verschwand?»
Bill Mason brauchte nicht lange nachzudenken. «Ja, das hat er.»
«Erinnern Sie sich an seinen Namen?»
«Ich glaube, er hieß Brewster», antwortete Bill. «Craig Brewster.»
28
Erics Vater schlürfte aus dem Kaffeebecher, den er in beiden Händen hielt, und spülte den Mund, bevor er schluckte. Dann biss er in einen Donut und bekrümelte die grauen Stoppeln, die er Bart nannte. Als er damit fertig war, widmete er sich wieder dem Kaffee, schlürfte, spülte und schluckte.
«Dad.» Eric schob den mit Donuts gefüllten Teller außer Reichweite. «Halte mich nicht länger hin.»
«Ich halte dich nicht hin. Ich habe Hunger.»
Tatsächlich sah Ken Olmstead schrecklich abgemagert aus in seiner Jeans und dem Henley-Hemd, das schlabberig an ihm herabhing. Wie eine Vogelscheuche. Der Unterarm, der unter dem Ärmel zum Vorschein kam, als er nach einem weiteren Donut langte, war dünn wie ein Besenstiel.
Eric machte sich Sorgen, nicht nur dem Anblick seines Vaters wegen, sondern auch, weil dieser auf die Frage schwieg, wie es denn so mit Lorraine, seiner Freundin, laufe. Außerdem war da dieser unangenehme Gestank, der ihm selbst noch nach dem Duschbad anhaftete. Eric befürchtete, dass sein Vater obdachlos war und in seinem Brummi lebte.
Von Gewissensbissen gequält, schob er den Teller wieder in seine Richtung. Sein Vater fiel darüber her und stopfte sich zwei Donuts nacheinander in den Mund. Eric wartete, bis er sie gegessen hatte, und fragte dann: «Du hast mir letzte Nacht geraten, nicht nach Charlie zu suchen. Warum?»
«Weil’s reine Zeitvergeudung wäre.»
«Mom war anderer Meinung.»
Ken verzog das Gesicht wie unter Schmerzen. Vielleicht hatte er einen Kater, aber Eric vermutete eine andere Ursache dahinter. Unliebsame Erinnerungen.
«Deiner Mutter ging’s nicht gut», sagte er. «Sie hat zwar vieles weggesteckt, aber tief im Inneren war sie krank.»
Ähnliches hatte Becky Santangelo geäußert, der vorher das Wort «verrückt» rausgerutscht war. Krank und verrückt bedeuteten für sie wahrscheinlich in diesem Fall das Gleiche.
«Was stimmte mit ihr nicht?»
«Maggie war eine gute Frau, klug, tüchtig und bildhübsch. Aber nach deiner Geburt ging es ihr nicht mehr gut. Die Ärzte sprachen von einer postnatalen Depression, was immer darunter zu verstehen ist.»
Strahlen der Mittagssonne drangen durch die Lamellen der Rollläden am Fenster und trafen genau zwischen ihnen auf den Tisch. Während sein Vater sprach, hielt Eric den Blick gesenkt und fühlte sich von dem Lichtmuster auf der Platte an eine Gefängniszelle erinnert. Die Schilderungen seines Vaters unterstützten diesen Gedanken noch, denn sie klangen, als habe die Krankheit seiner Mutter die
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