Totennacht (German Edition)
ganze Familie gefangen gehalten.
«Sie war ständig niedergeschlagen», sagte Ken. «Manchmal hat sie an euch Kindern überhaupt kein Interesse mehr gezeigt. Es war ihr schon zu viel, euch zu füttern und zu baden. Wenn ich von der Arbeit nach Hause kam, hörte ich euch oft in euren Betten schreien. Eure Mutter lag dann schlafend auf der Couch oder oben im Bett. Charlie war häufig bei den Nachbarn oder spielte draußen. Er konnte schon das Haus verlassen, du nicht. Ich habe mir große Sorgen gemacht. Vor allem nach jenem Tag im Mai.»
«Was ist da passiert?»
«Deine Mutter hätte dich fast umgebracht.»
Eine kleine Vorwarnung wäre angebracht gewesen. Mit dieser Erklärung seines Vaters hatte Eric am allerwenigsten gerechnet. Er erstickte fast an einem Schluck Kaffee, der ihm heiß in der Kehle stecken blieb.
«Unbeabsichtigt, natürlich», fügte sein Vater hinzu. «Es war nicht ihre Schuld, es lag an ihrer Krankheit.»
Er stand vom Tisch auf und ging in die Diele hinaus. Eric folgte, nicht ahnend, was Ken vorhatte, bis sein Vater am unteren Treppenabsatz stehen blieb und nach oben blickte. Anscheinend versuchte er, sich jenen Maitag vor vielen Jahren vor Augen zu führen.
«Als ich zur Tür hereinkam, hörte ich Wasser laufen», sagte er und zeigte unter die Decke. «Oben im Badezimmer.»
Ken stieg langsam die Stufen hinauf. Eric folgte und versuchte, sich die Szene vorzustellen. Ein stilles Haus. Rauschendes Wasser. Knarrende Stufen unter seinen Füßen auf dem Weg nach oben.
Vor Charlies früherem Zimmer blieb Ken stehen. Die Tür stand offen und gab den Blick frei auf einen Raum, in dem der Staub so dicht in der Luft hing, dass selbst die Mittagssonne nicht dagegen ankam. Ken schaute sich um. Seinen traurig flackernden Augen war anzumerken, dass er nicht mehr damit gerechnet hatte, noch einmal vor diesem Zimmer zu stehen.
«Charlie spielte draußen. Wir hatten uns in der Einfahrt getroffen, als ich nach Hause kam.» Ken ging jetzt auf Erics Kinderzimmer zu. «Du hättest eigentlich schon schlafen müssen, aber deine Wiege war leer.»
Der nächste Halt, sowohl in der Erinnerung seines Vaters als auch auf ihrem gegenwärtigen Gang durchs Haus, war das ehemalige Elternschlafzimmer.
«Die Tür stand offen, genau wie jetzt. Deine Mutter lag im Bett und schlief tief und fest.»
«Und wo war ich?», fragte Eric.
Sein Vater machte kehrt und wandte sich der Badezimmertür zu. «Da drin. Die Tür war zu, aber ich wusste, dass du in der Wanne warst.»
Auf wackligen Beinen, wie ein Mann, der zum Schafott geführt wird, betrat er das Badezimmer. Sein Blick war auf die Wanne gerichtet, und seine Stimme hallte von den gefliesten Wänden wider, als er sagte: «Die Wanne war halb voll. Du hast darin gelegen. Untergetaucht. Ich weiß nicht, für wie lange, aber du warst schon blau angelaufen.»
Eric wähnte sich auch jetzt unter Wasser. Die Details der Schilderung – wie Ken ihn aus der Wanne gerissen und an den Beinen in die Höhe gehalten hatte, damit das Wasser aus ihm herauslaufen konnte, die ungeschickten Versuche, ihn zu reanimieren, und das sirenenartige Heulen, nachdem er, Eric, wieder zu atmen angefangen hatte –, all das führte zu einem Gefühl völliger Benommenheit. Als sein Vater zu Ende gesprochen hatte, stützte sich Eric am Waschbecken ab und rang nach Luft.
«Deine Mutter weinte zwei Tage lang ununterbrochen», sagte Ken. «Ihr war schrecklich zumute. Sie habe dir doch nichts antun wollen, heulte sie immer wieder. Ich habe ihr geglaubt, wusste aber auch, dass da in ihrem Kopf etwas war, was sie nicht steuern konnte. Der heimliche Wunsch, dich loszuwerden.»
Eric musste raus. Er konnte den Anblick der Badewanne, in der er fast ertrunken wäre, nicht mehr ertragen, ebenso wenig wie die hellblaue Tapete, die den Eindruck, unter Wasser zu sein, noch verstärkte. Er versuchte, die Benommenheit von sich abzuschütteln, und eilte wieder nach unten.
«Tut mir leid, wenn ich dich aufgebracht habe», sagte sein Vater, als sie wieder im Esszimmer waren. «Vielleicht verstehst du jetzt, warum ich nie davon gesprochen habe.»
Eric log, als er sagte, es wäre halb so schlimm. Was er gehört hatte, war mehr als genug, um unverzüglich eine Therapie zu beantragen.
«Deine Mutter hat dich mehr geliebt als alles andere auf der Welt», sagte Ken. «Das musst du wissen. Es ging ihr nicht gut, als das passiert ist. Aber sie erholte sich. Nach der Nacht, als Charlie verschwand, war sie wie ausgewechselt.
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