Totenpech
konnte er niemanden entdecken. Ronald Walter befürchtete
schon, dass er wieder unfreiwilliger Zeuge einer höchst unangenehmen Situation
werden würde, als einer seiner Kollegen mit einer Frau vom hinteren Teil des
Kellers um die Ecke bog. Die Frau steckte schnell etwas in ihre Tasche, doch
dann gingen die beiden an ihm vorbei, als wäre es das Normalste der Welt.
Ronald Walter drehte sich auch nicht um, obwohl es ihn geradezu juckte.
Er erkannte die Frau sofort wieder. Es war dieselbe, die er hinter
den Säulen im Saal 3 gesehen hatte. Und dem Akzent nach zu urteilen, war sie
auch gestern Abend hier im Keller gewesen.
Deutscher Archäologe deckt üble Verschwörung auf. So könnte eine Schlagzeile lauten. Ronald Walter überprüfte seine Brieftasche.
Es war alles noch drin. Dann verlieà er das Museum. Es war das erste Mal seit
zwei Tagen, dass er wieder unter freiem Himmel stand. Die Luft war mild, und er
fühlte sich so unabhängig wie noch nie in seinem ganzen Leben. Er rief nach
einem Taxi, als vor ihm wieder die Frau auftauchte. Ihr blondes Haar war zu
einem Pferdeschwanz gebunden und erinnerte tatsächlich an den Schweif eines
Pferdes. Sie hob die Hand, um sich ein Taxi herbeizuwinken. Es hielten gleich zwei.
Offensichtlich hatte der eine einen besseren Preis genannt, denn sie schüttelte
bei Taxifahrer Nummer zwei nur empört den Kopf. Dann setzte sie sich eine groÃe
schwarze Brille auf, sah sich noch einmal um und stieg schlieÃlich ein. Es war
genau dieser Blick, der Ronald Walter irgendwie verdächtig vorkam und ihn dazu
veranlasste, dem Taxi mit der Frau zu folgen.
Nach einer Stunde Stop-and-go durch die Stadt hielt das
Taxi der Frau schlieÃlich direkt vor der Totenstadt Kairos. Das war nicht das,
was er sich vorgestellt hatte. Warum konnte sie nicht vor einem normalen Wohngebäude
halten? Ronald Walter sah zum Himmel hoch. Es würde in einer halben Stunde
dunkel sein, und er hatte noch nie einen Friedhof in der Dunkelheit betreten.
Das hatte auch seinen Grund. Die Totenstille auf Friedhöfen â schon am Tag â
flöÃte ihm eine Heidenangst ein. Allein die Vorstellung, dass unter jedem Stein
ein toter, verwester, von Insekten zerfressener Körper lag, fand er äuÃerst
grauenerregend.
Er wartete noch einen Augenblick, bis die Frau zwischen zwei Gräbern
verschwunden war, dann stieg er auch aus und machte sich daran, ihr zu folgen.
Es war mühsamer als gedacht, weil hundert Meter Vorsprung in dem
Labyrinth schon zu viel waren. Immer konnte er gerade noch einen Schatten um
die Ecke verschwinden sehen, der jedoch bald auch nicht mehr zu erkennen war,
weil die Dunkelheit die Schatten verschluckte. Ronald Walter schwitzte. Nicht
vor Hitze, sondern vor Panik. Er hörte das Knarren einer alten Tür neben sich
und sprang zur Seite. Ein völlig abgemagerter Mann trat aus einem Grab heraus.
Der Mund eingefallen, die Augen in tiefen Höhlen, furunkelartige Gebilde im
Gesicht, sah er in seinem langen braunen schmutzigen Gewand wie ein Halbtoter
aus. Ronald Walter war kurz vor einem Infarkt. Er atmete tief aus und lief weiter,
bis er zu einer Gabelung kam. Doch weder links noch rechts konnte er eine
Bewegung ausmachen. Die Frau war verschwunden. Er nahm den rechten Weg und lief
hastig weiter. Dann blieb er plötzlich stehen. Verunsichert sah er sich um. Er
war mutterseelenallein, kein Mensch weit und breit, und nicht ein menschliches
Geräusch oder wenigstens das Hupen eines Autos war zu hören. Diese Totenstille
war unerträglich. Vor lauter Angst konnte er kaum noch atmen. Die Gräber verwandelten
sich in riesige dunkle Schatten mit unsichtbaren Augen, die ihn zu beobachten
schienen. Ronald versuchte den Weg zurückzulaufen. Doch er hatte sich keine
Punkte gemerkt, die ihn hätten wieder hinausführen können, dafür war er viel zu
sehr mit der Verfolgung beschäftigt gewesen. Völlig verloren irrte er zwischen
den Gräbern hin und her, bis er nach einer endlosen Stunde wieder auf lebende
Seelen traf. Verwahrloste Menschen, die vor den Gräbern hockten und sie hüteten
oder darin wohnten.
Als Ronald Walter wieder auf die HauptstraÃe traf, war er kurz vor
einem Kollaps. Er setzte sich auf einen groÃen Stein, und als er endlich wieder
klar denken konnte, fragte er sich, was eine Frau dieser Klasse hier in der
Totenstadt verloren hatte. Hatte sie vielleicht das Grab eines Bekannten
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