Totenpech
Name Jean-Luc Fleury.
Es erinnerte sie an die Klotüren in der Schule, an denen alle ihre
Namen verewigt hatten. Wie problemlos doch die alten Zeiten gewesen waren. Ob
Jean-Luc Fleury noch am Leben war? Eine innere Stimme gab ihr darauf ein klares
Nein als Antwort.
DrauÃen war es totenstill. Geradezu unheimlich still. Eine Träne
rollte langsam ihre Wange hinunter, und plötzlich wusste Lina, dass sie ihre
Mutter und Sam nie wiedersehen würde. Wäre sie nur nicht so schrecklich stur
gewesen, dann wäre ihre Welt mit Sam noch heil. Er war damals ihr Retter, ihr
Held in letzter Sekunde gewesen. Sie bezweifelte allerdings, dass das auch
dieses Mal der Fall sein könnte. Zumal keiner von ihrem Aufenthaltsort wusste.
Folglich würde man auch nicht nach ihr suchen, schon gar nicht in Kairo. Was
hatte der weise alte Mann mit den silbernen Haaren noch zu ihr gesagt? Du
erlangst die reine Erkenntnis, wenn du auf deine innere Eingebung hörst ⦠Sie
hatte eindeutig versagt und sich das hier damit eingebrockt. Aber hatte er
nicht auch gesagt, sie sei beschützt, auch wenn ihr Weg sie mal in die
Unterwelt führen würde? Sie durfte die Hoffnung noch nicht aufgeben. Irgendetwas
würde, musste passieren.
Sie sank wieder zu Boden, als sie drauÃen vor der Tür einen Singsang
hörte. »Ene mene muh und raus bist du.« Eine weibliche Stimme sagte etwas auf
Französisch, dann ging die Tür auf.
Zwei Männer in weiÃen Gewändern und mit Turbanen auf dem Kopf
standen vor ihr. Der eine machte ihr Handzeichen, dass sie heraustreten sollte,
und sagte dabei etwas auf Arabisch, das Lina nicht verstand. Sie stemmte sich
an der Wand hoch und verlieà ihre Zelle. Ihr Herz hämmerte wild in ihrer Brust.
Sie führten sie durch einen langen, dunklen, niedrigen Gang, von dem
mehrere Türen abgingen. Erfüllt von Angst, schrie sie aus Leibeskräften:
»Hilfe, hört mich jemand? Hey â¦!« Als Antwort war ein leises Allô irgendwo hinter einer der Türen zu hören und dann ein Klopfen. Ein Klopfen, das
sich müde und resigniert anhörte. Jemand hatte Allô gesagt, dachte sie und rief noch lauter: »Ich heiÃe Lina, wie heiÃt du?« Doch
es kam keine Antwort. Sie stiegen ein paar sandige Steinstufen nach oben und
betraten einen Raum. Lina hatte plötzlich ein Déjà -vu. Sie kannte diesen Raum.
Aber woher?
In der Mitte befand sich eine groÃe dunkelgraue steinerne Platte auf
einem Sockel. Es war so eine, die sie auch im Museum gesehen hatte und deren
Erklärung sie neugierig gelesen hatte. Ein Seziertisch aus dem alten Ãgypten.
Lina versuchte, sich aus den schraubzwingenartigen Griffen der
beiden Männer zu befreien. Sie fing an zu treten, zu beiÃen und zu schreien.
Doch die Männer verzogen keine Miene. Sie hoben sie wie ein zappelndes Tier auf
die Steinplatte und banden sie dort fest. Dann rollten sie einen kleinen
Stahltisch mit Chirurgieinstrumenten an den Tisch heran und traten einen
Schritt zurück. Lina entdeckte an der Seite Kanopen, in denen man früher die
herausgenommenen Organe der Pharaonen aufbewahrt hatte, und dachte wieder, dass
das alles nicht sein konnte. Nur eine Fehlentscheidung, die ihr geregeltes und
langweiliges Leben in einen Albtraum verwandelt hatte. Aber war es nicht immer
so? Eine falscher Schritt konnte manchmal eine Lawine von Tragödien auslösen,
konnte im Bruchteil einer Sekunde das Leben von einem selbst oder das der
anderen für immer verändern. Ein Schritt, der nicht mehr rückgängig zu machen
war.
Plötzlich strich ihr jemand sanft die Haare aus dem Gesicht und sagte:
»Es tut mir so leid. Ich hätte dich nie nach Kairo bringen dürfen.«
Lina bog ihren Kopf nach hinten und sah in die tränennassen Augen
von Daniel. »Warum machst du mich nicht los? Was soll das, Daniel?«
»Ich kann nicht.«
»Ach, wie rührend. Mir kommen gleich die Tränen.«
Eine blonde Frau war an den Tisch getreten und gab den Arabern ein
Zeichen. Beide stellten sich neben sie. »Ho, attendez. Warum entkleidest du nicht die kleine Hure? Das hast du doch in den Hotelzimmern
auch gemacht.«
Daniel schüttelte den Kopf und griff nach der Phiole, die um seinen
Hals hing. Er öffnete sie und hielt sie in seinen geöffneten Mund. Zwei kleine
Tropfen, mehr war nicht mehr darin.
»Das ScheiÃzeug wird dir auch nicht helfen, du kleiner Versager. Ich
werde dich
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