Totenpfad
viel zu gefährlich.»
«Ich weiß einen Weg», sagt Cathbad.
Alle starren ihn an. Sein Umhang weht im Wind, seine Augen leuchten, und er gibt längst kein so lächerliches Bild mehr ab wie sonst.
«Es gibt einen geheimen Pfad», fährt er fort. «Ich habe ihn vor zehn Jahren entdeckt. Eine Art Kiesbank, die vom ersten Unterstand bis zum Henge-Ring führt. Man geht die ganze Zeit auf festem Boden.»
Das muss der Weg sein, denkt Nelson, der Ruth zu Scarlets Leiche geführt hat. «Und den finden Sie im Dunkeln?», fragt er.
«Sie werden mir einfach vertrauen müssen», sagt Cathbad.
Eine Aussicht, die keinem so recht gefällt.
Der Klang ihres Namens scheint das Mädchen zu erschrecken: Sie fängt lauthals an zu weinen – das Weinen eines Kindes, nicht das einer Halbwüchsigen.
«Hol mich raus!», ruft sie schluchzend. «O bitte, hol mich raus!»
«Und ob ich dich da rausholen werde», brummt Ruth mit grimmiger Entschlossenheit.
Sie streckt sich nach unten und greift nach dem Arm des Mädchens, der sich so zart anfühlt, dass sie Angst hat, ihn zu zerbrechen. Dann zieht sie mit aller Kraft, doch sie ist nicht stark genug, um das Mädchen nach oben zu ziehen, so mager es auch ist. Warum ist sie bloß nie ins Fitnessstudio gegangen?
Schließlich sagt sie: «Ich komme runter. Dann kann ich dir besser hochhelfen.»
Das Mädchen weicht zurück, doch Ruth ist fest entschlossen. Sie springt durch die Falltür und kommt schwer auf dem harten Betonboden auf. Das Mädchen hat sich an die hintere Wand gedrückt und bleckt die Zähne wie ein in die Enge getriebenes Tier. In der Hand hält es einen Stein. Einen Feuerstein, wie Ruth mit geübtem Archäologenblick erkennt. Mit einer sehr scharfen Spitze.
Sie gibt sich Mühe zu lächeln. «Hallo», sagt sie. «Hallo, Lucy. Ich bin Ruth.»
Das Mädchen gibt einen leisen, verängstigten Laut von sich, rührt sich aber nicht von der Stelle.
Ruth schaut sich um. Sie befindet sich in einem kleinen, quadratischen, unterirdischen Verlies. Als sie nach oben schaut, sieht sie die Falltür in der Decke und ein vergittertes Fenster mit einem hölzernen Laden davor. Bis auf ein niedriges Bett, einen Eimer und einen Plastikbehälter mit Kinderspielzeug ist das Zimmer leer. Wände und Boden sind aus Beton, der an manchen Stellen Risse hat; an den Wänden zeigen sich feuchte Flecken. Es riecht nach Nässe, nach Urin und nach Angst.
Großer Gott, denkt Ruth entsetzt, hat Erik sie etwa all die Jahre hier gefangen gehalten? Was war in der Zeit, alser in Norwegen war? Cathbad. So muss es sein. Da liegt die Verbindung zwischen Cathbad und Erik. Cathbad ist Eriks Kerkermeister.
Aber jetzt müssen sie fliehen. Ruth dreht sich zu dem Mädchen um, das sich immer noch an die Wand presst.
«Komm.» Sie streckt die Hand aus. «Ich helfe dir hier raus.»
Doch das Mädchen, Lucy, wimmert nur und schüttelt den Kopf.
«Na komm, Lucy», sagt Ruth und bemüht sich, ihre Stimme so ruhig und sanft wie möglich klingen zu lassen, als hätten sie alle Zeit der Welt, als wäre ihnen kein Wahnsinniger auf den Fersen, als tobte draußen kein Gewitter. «Komm. Ich bringe dich nach Hause. Du möchtest doch wieder nach Hause, oder? Zurück zu Mummy und Daddy?»
Sie hat geglaubt, dass Lucy auf diese Worte reagieren wird, doch das Mädchen starrt sie immer noch verängstigt an. Ruth nähert sich ganz langsam und durchforstet dabei ihr Hirn nach all den Formeln, die man so sagt, um Kinder zu beruhigen.
«Na komm. Es ist doch alles gut. Hab keine Angst. Es wird alles wieder gut.»
Was waren das noch für Sinnlosigkeiten, die ihre Mutter ihr immer gesagt hat? Lauter abgedroschenes Zeugs, das dennoch so tröstlich wirkte wie eine Tasse heiße Schokolade, wenn man nicht schlafen konnte. Ruth hat selbst keine Kinder, deshalb muss sie sich in ihre eigene Kindheit zurückversetzen, sich an die Zeit erinnern, als ihre Mutter noch keine nervtötende Präsenz am Telefon war, sondern der wichtigste Mensch auf Erden. An die Litanei des Mütterlichen.
«Hab keine Angst. Über vergossene Milch lohnt sich nicht zu weinen. Heile, heile Segen. Bis du heiratest, ist alleswieder gut. Morgen ist auch noch ein Tag. Ende gut, alles gut. Das geht alles vorüber. Wein doch nicht. Es gibt immer ein Licht am Ende des Tunnels.»
Und da, als wären diese letzten Worte eine Zauberformel, das Sesam-öffne-dich, wirft Lucy sich Ruth in die Arme.
Schweigend fährt Nelson mit Cathbad zum Parkplatz. Man hört kaum ein Geräusch,
Weitere Kostenlose Bücher