Totenpfad
bis auf die völlig überforderten Scheibenwischer und das ungeduldige Trommeln von Nelsons Fingern auf dem Lenkrad. Cathbad enthält sich jeden Kommentars zu diesem skorpiontypischen Verhalten, was seinem weiteren Wohlergehen sicher nur zuträglich ist.
Die Bäume rings um den Parkplatz werden vom Wind hin und her gepeitscht. Vor ihnen ragt der zugenagelte Kiosk mit seiner schemenhaften Verheißung auf Cornettos und Calippos gespenstisch aus dem Dunkel. Mit finsterer Miene holt Nelson ein Seil und eine starke Taschenlampe aus dem Kofferraum. Cathbad summt ungerührt weiter.
Sie folgen dem Kiespfad bis zum ersten Unterstand. Nelson geht voraus und leuchtet mit der Taschenlampe vor sich. Er hält sich sonst für keinen sehr fantasiebegabten Menschen, doch das Heulen des Windes über dem Moor jagt selbst ihm Schauer über den Rücken, und das Donnergrollen trägt noch zusätzlich dazu bei, dass er den Eindruck hat, in einem Horrorfilm gelandet zu sein. Hinter ihm stößt Cathbad einen Seufzer aus, der geradezu glückselig klingt.
Als sie am ersten Unterstand vorbei sind, drängt sich Cathbad nach vorn.
«Der Pfad», sagt er ruhig. «Er muss hier ganz in der Nähe sein.»
Nelson reicht ihm die Taschenlampe. Falls sie sich verlaufen,wird er Cathbad zunächst den Hals umdrehen und ihn anschließend einbuchten.
Nach ein paar Metern verlässt Cathbad den Kiespfad und spaziert direkt aufs Moor hinaus. Trotz Taschenlampe ist es stockfinster. Hier und da sieht Nelson dunkel und unheilvoll Wasser schimmern. Der Weg ins Ungewisse, wie eine dieser albernen Vertrauensübungen, die man während der Polizeiausbildung machen muss. Nur dass Nelson Cathbad eben nicht vertraut. Kein bisschen. Es war schon schwer genug für ihn, Ruth am helllichten Tag übers Moor zu folgen; jetzt braucht es seine ganze Selbstbeherrschung, Cathbad nicht beiseitezuboxen und ihn zu zwingen, auf den Pfad zurückzukehren.
Da bleibt Cathbad plötzlich stehen. «Da ist er», murmelt er, und Nelson sieht, wie er mit der Taschenlampe auf den Boden leuchtet. Ein Blitz erhellt den Himmel, und Cathbad sieht Nelson grinsend an. «Mir nach», sagt er.
Gut zwei Kilometer weiter, auf der anderen Seite des düsteren Moores, hält Ruth Lucy in den Armen. Es ist ein seltsames Gefühl, diesen mageren, zerbrechlichen Körper an sich zu drücken. Ruth kennt nicht viele Teenager, doch die wenigen, die sie kennt, würden ihr sicher niemals um den Hals fallen und an ihrer Schulter schluchzen.
«Na, na», sagt Ruth in möglichst mütterlichem Tonfall. «Es ist ja alles gut. Na komm, Lucy.»
Doch Lucy weint immer weiter und schluchzt haltlos.
«Wir müssen los», sagt Ruth schließlich, weil ihr nichts anderes mehr einfällt. «Nicht, dass er noch zurückkommt.»
Das wirkt. Lucy sieht sie mit großen, ängstlichen Augen an.
«Kommt er zurück?», flüstert sie.
«Ich weiß es nicht», sagt Ruth. Wer kann schon wissen,wo Erik steckt? Natürlich hofft sie, dass er sich irgendwo auf dem dunklen Moor verirrt hat, doch wie sie ihn kennt, verfügt er wahrscheinlich über den sechsten Sinn eines Wassergeistes und wird das Gewitter unbeschadet überstehen, um just in dem Moment hier aufzutauchen, wenn sie zu fliehen versuchen. Das sagt sie Lucy jedoch nicht. Stattdessen schiebt sie das Mädchen, das sich jetzt nicht mehr ganz so fest an sie klammert, sanft unter die Falltür.
«Ich mache eine Leiter aus meinen Händen für dich. Du weißt schon», fügt sie auf gut Glück hinzu, «so, wie man auf ein Pferd steigt.» Sie ist zwar selbst nie geritten, hofft aber, dass Lucy weiß, was sie meint.
«Wie auf ein Pferd», wiederholt Lucy gewissenhaft.
«Genau. Dann hebe ich dich hoch, und anschließend klettere ich selber raus. Alles klar?» Sie gibt sich Mühe, möglichst munter zu klingen.
Lucy nickt fast unmerklich.
«Streck die Arme hoch», sagt Ruth, und Lucy tut wie geheißen. Sie ist es offenbar gewöhnt, Befehle auszuführen. Am Ende macht Ruth dann doch keine Leiter aus ihren Händen, sondern fasst Lucy um die Taille und hebt sie hoch. Es geht erstaunlich leicht. Entweder Lucy wiegt fast nichts mehr, oder Ruth hat plötzlich übermenschliche Kräfte entwickelt. Zu Ruths Überraschung greift Lucy von selbst nach der Falltür und zieht sich geschickt nach oben. Um ihre Lippen spielt etwas wie ein Lächeln, als sie zu Ruth hinunterschaut.
«Gut gemacht, Lucy! Sehr gut!» In ihrer Euphorie vergisst Ruth fast, dass sie selbst ja auch noch irgendwie nach oben kommen
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