Totenpfad
Wasserlauf. Das kann gefährlich sein. Wasser ist doch ein Stromleiter, oder nicht? Sie kann sich nicht einmal erinnern, ob ihre Schuhe Gummisohlen haben. Bäuchlings bewegt sie sich vorwärts. So muss es im Ersten Weltkrieg gewesen sein: Man lag der Länge nach im Schlamm, während ringsum Mörsergranaten explodierten. Auch das hier ist echtes Niemandsland. Langsam, Zentimeter für Zentimeter, robbt Ruth voran.
Nelson rast mit zusammengebissenen Zähnen wie ein Besessener Richtung Salzmoor. Neben ihm sitzt Cathbad und summt leise vor sich hin. Eigentlich ist er der Letzte, dessen Gesellschaft Nelson sich jetzt wünschen würde, doch es gibt zwei sehr gute Gründe dafür, dass Cathbad hier auf dem Beifahrersitz seines Mercedes sitzt. Erstens behauptet er, das Salzmoor zu kennen wie seine Westentasche, und zweitens traut Nelson ihm so wenig über den Weg, dass er ihn schlicht nicht aus den Augen lassen will.
Clough und Judy folgen in einem Streifenwagen. Beide Autos fahren mit heulenden Martinshörnern, doch auf der Landstraße ist sowieso kein Verkehr. Bei dem Gewitter will offensichtlich niemand das Haus verlassen.
An der New Road erkennt Nelson schon von weitem Ruths Wagen und atmet kurz auf. Doch dann sieht er die offene Haustür im Wind schaukeln, und sein Herz krampft sich zusammen. Und bleibt dann vor Schreck fast stehen, als er das Häuschen betritt, denn das Wohnzimmer ist erfüllt von einem schauerlichen, unmenschlichen Jaulen.Nelson zuckt unvermittelt zurück, sodass er gegen Cathbad prallt, der direkt hinter ihm ist.
Als Cathbad gleich darauf den Katzenkorb entdeckt und Flint befreit, möchte Nelson vor Scham am liebsten im Boden versinken.
«Lauf, kleine Katze», murmelt Cathbad. Das lässt Flint sich nicht zweimal sagen: Mit erbost gesträubtem Schwanz saust er zur Tür hinaus. Nelson hofft inständig, dass er wiederkommt. Er möchte nicht, dass es auch mit Ruths zweiter Katze ein böses Ende nimmt.
Als Clough und Judy ankommen, hat Nelson das kleine Haus bereits abgesucht. Von Erik und Ruth fehlt jede Spur, obwohl an der Tür ein gepackter Koffer steht und auf dem Boden ein kaputter Schirm liegt, wie ein urzeitliches Vogelskelett. Cathbad begutachtet das zusammengedrückte Stück Metall auf dem Schreibtisch.
«Was ist das?», fragt Nelson.
«Sieht aus wie ein Torques aus der Eisenzeit», antwortet Cathbad. «Ein magischer Gegenstand.»
Nelson verliert umgehend das Interesse daran. «Weit können sie nicht sein», sagt er. «Johnson, Clough, ihr fragt die Nachbarn, ob ihnen irgendwas aufgefallen ist. Ordert ein paar Suchhunde und einen bewaffneten Einsatztrupp. Und wir zwei …» Er packt Cathbad am Arm. «… wir machen einen kleinen Spaziergang übers Salzmoor.»
Ruth rennt geduckt über das Moor, fällt der Länge nach in schlammige Wasserläufe, kommt mit Mühe wieder auf die Beine, schmeckt Blut im Mund, läuft weiter und fällt erneut, diesmal in einen Tümpel, der fast einen halben Meter tief ist. Prustend rappelt sie sich hoch. Der Sumpf ist durchsetzt von solchen Gewässern, manche sind sogar mehrere Meter breit. Sie geht ein Stück rückwärts, bis sie wieder auf festeren Boden kommt, dann rennt sie weiter.
Sie rennt und rennt. Sie hat bereits einen Schuh verloren, und ihre Hose hängt in Fetzen. Was für ein Glück, dass sie wenigstens die Polizeijacke hat, die sie oben herum trocken hält. Sie muss es schaffen – das ist sie, wenn schon sonst niemandem, zumindest Nelson schuldig. Eine weitere Leiche im Moor wäre sein beruflicher Ruin. Sie zieht die Jacke fester um sich und fühlt sich schon etwas mutiger. Nelson würde sich von ein bisschen Wind und Regen schließlich auch nicht ins Bockshorn jagen lassen.
Aber wo steckt Nelson? Und vor allem: Wo steckt Erik? Ruth bleibt stehen und lauscht, hört aber nichts als Wind und Regen und Donner.
Was der Donner sagt.
Ist das nicht auch von T. S. Eliot? Einen Moment lang denkt sie an die Briefe, an Erik und Shona, die Nelson mit Eliot-Zitaten verspotten. Das kann sie sich durchaus vorstellen, so traurig es sie auch macht; aber kann sie sich allen Ernstes vorstellen, dass Erik Scarlet Henderson getötet hat? Und glaubt sie tatsächlich, dass er auch sie töten würde? Traue keinem, ermahnt sie sich, während sie weiter über den unebenen Boden stolpert. Traue keinem außer dir selbst.
Dann hört sie einen Laut, der ihr das Blut in den Adern gefrieren lässt, einen Laut, wie er unmöglich von einem menschlichen Wesen
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