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Totenpfad

Totenpfad

Titel: Totenpfad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elly Griffiths , Tanja Handels
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stammen kann. Es ist, als würden die Toten ihre Stimme erheben. Drei Rufe, dunkel und gleichmäßig, und als der letzte zitternd verklungen ist, herrscht Stille. Was in aller Welt war das?
    Der Ruf ertönt noch einmal, diesmal ganz nahe. Ruth folgt ihm, ohne recht zu wissen, warum, und steht mit einem Mal vor einer Wand.
    Erst kann sie es kaum fassen, doch das ist eine Wand, ganz eindeutig. Vorsichtig streicht sie mit der Hand darüber. Tatsächlich, es ist keine Einbildung. Da vor ihr ist eine Wand, eine massive Holzwand, aus groben Brettern zusammengezimmert.
    Natürlich, der Unterstand! Sie ist beim Unterstand angekommen. Fast muss sie laut auflachen vor Erleichterung. Es muss der hinterste Unterstand sein, wo sie damals, als sie mit Peter unterwegs war, David getroffen hat. Und dieser Unterstand befindet sich oberhalb der Gezeitenmarke. Sie ist gerettet. Hier kann sie unterkriechen, bis das Gewitter vorüber ist. Gelobt seien die Vogelfreunde.
    Halb trunken vor Glück taumelt Ruth in den Unterstand. Er ist zu einer Seite hin offen und bietet keinen ganz perfekten Schutz, doch Ruth fällt ein Stein vom Herzen. Wie wunderbar, dem Meer und dem Unwetter entronnen zu sein! Ihr Gesicht schmerzt, als hätte man sie mehrfach geohrfeigt, und ihr klingen immer noch die Ohren. Sie lehnt den Kopf an die raue Holzwand und schließt die Augen. So verrückt es auch ist, sie könnte fast einschlafen.
    Draußen tobt das Gewitter weiter, doch sie hat sich schon fast daran gewöhnt. Der Wind klingt jetzt wie die Rufe von Kinderstimmen. Wie traurig sich das anhört, fast wie die Hilfeschreie gekenterter Seeleute, deren Seelen auf der Suche nach Trost und Wärme übers Moor irren. Ruth erschauert. Jetzt bloß nicht in Panik geraten und nicht an Eriks Lagerfeuer-Spukgeschichten denken. Nicht an die langen, grünen Finger, die sich aus dem Wasser recken, nicht an die Untoten, die die Nacht durchstreifen, nicht an versunkene Städte, deren Kirchturmglocken tief am Meeresboden läuten   …
    Sie fährt zusammen. Irgendwo unter ihren Füßen hat sie einen Schrei gehört. Ruth lauscht angestrengt. Und als der Sturm einen Augenblick lang nachlässt, hört sie es wieder. Eine menschliche Stimme, unverkennbar. «Hilfe! Hilfe!»
    Verdutzt starrt Ruth auf den Holzboden des Unterstands, der von einem Binsenteppich bedeckt ist. Dann macht sie sich daran, an dem Teppich zu zerren. Er scheintgut befestigt zu sein, doch nach dem dritten oder vierten Ruck löst er sich schließlich. Darunter kommen Bodendielen zum Vorschein und eine Falltür. Wozu in aller Welt braucht man in einem Unterstand für Vogelfreunde eine Falltür? Da ist die Stimme wieder. Sie scheint von unten zu kommen.
    Ohne weiter darüber nachzudenken, bückt sich Ruth und bringt das Gesicht nah an die Falltür.
    «Wer ist da?», ruft sie.
    Einen Moment bleibt es still, dann antwortet die Stimme: «Ich.»
    Diese schlichte Antwort geht Ruth durch Mark und Bein. Sie setzt so selbstverständlich voraus, dass Ruth weiß, wem die Stimme gehören muss. Und im selben Moment glaubt sie es auch zu wissen.
    «Keine Angst», ruft sie. «Ich komme runter.»
    Die Falltür ist mit einem Riegel verschlossen, der sich aber problemlos beiseiteschieben lässt, so, als würde er häufig benutzt. Ruth öffnet die Falltür und blinzelt hinunter in die Dunkelheit. Gleich darauf erleuchtet ein weiterer Blitz alles ringsum.
    Ein Gesicht schaut zu ihr empor. Ein Mädchen, etwa im Teenageralter, erbarmungswürdig mager, mit langem, verfilztem Haar. Es trägt einen Männerpullover und eine zerschlissene Hose und hat sich eine Decke um die Schultern geschlungen.
    «Was machst du denn da unten?», fragt Ruth töricht.
    Das Mädchen schüttelt nur den Kopf. Die Augen sind riesengroß, die Haut ist grau vor Blässe.
    «Wie heißt du?», fragt Ruth.
    Doch dann weiß sie es plötzlich.
    «Lucy», sagt sie sanft. «Du bist Lucy, nicht wahr?»

28
    Judy und Clough berichten, dass keiner von Ruths Nachbarn aufgemacht habe.
    «Da ist niemand, Sir.» Nelson befiehlt ihnen, hier auf die Hundeführer zu warten. Er selbst will sich auf dem Salzmoor umsehen.
    «Bei dem Wetter?» Clough deutet auf das düstere Sumpfland vor ihnen, wo der Sturm die Bäume fast zu Boden drückt. «Da finden Sie die doch nie.»
    «Es gibt Treibsand dort.» Judy stemmt sich gegen eine besonders starke Windböe, die sie fast umweht. «Und die Flut kann völlig unvermittelt einsetzen. Ich habe früher selbst hier in der Gegend gewohnt. Das ist

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