Totenpfad
gerichtet, stapft er dahin. Und Ruth stapft ihm in ihren bewährten Gummistiefeln hinterher.
Der gestrige Sturm hat den Sand zu merkwürdigen Formen und Wulsten verweht. Je näher man dem Wasser kommt, desto ebener wird er, durchsetzt mit leeren Austernschalen und toten Krebsen. Schmale Rinnsale fließen in Richtung Meer, und manchmal findet man auch größere Tümpel, in denen sich der blaue Himmel spiegelt. Ruth planscht durch einen solchen Tümpel und denkt an den Ausgrabungssommer zurück, daran, wie sich der Sand unter ihren bloßen Füßen angefühlt hat. Fast spürt sie noch die Nadelstiche des Wassers und den wundersamen Schmerz, wenn man auf eine Schwertmuschel trat. Am Abend waren ihre Füße übersät mit winzigen Schnittwunden.
«Bist du immer noch der Meinung, wir hätten den Henge lassen sollen, wo er war?», fragt sie.
Erik schließt die Augen und hebt das Gesicht der Sonne entgegen. «Ja», sagt er. «Er gehörte hierher. Er war eine Grenzmarkierung. Das hätten wir respektieren sollen.»
«Grenzen waren den Urmenschen überaus wichtig, nicht?»
«Das kann man wohl sagen.» Geschickt macht Erik einen großen Schritt über ein breiteres Rinnsal hinweg. Erträgt keine Gummistiefel. «Deshalb wurden sie ja auch mit Grabhügeln, Kultstätten und Opfergaben an die Ahnen markiert.»
«Glaubst du, meine Eisenzeitleiche war auch so eine Grenzmarkierung?» Beim Frühstück hat Ruth ihm von ihrem Fund erzählt, von dem Mädchen mit dem halb kahlgeschorenen Kopf und den Zweigen um Hand- und Fußgelenke, von den drei Torques und den Münzen und dem vielsagenden Fundort der Toten.
Erik zögert. Er spricht jetzt mit seiner Berufsstimme, ruhig und gemessen. «Ja», sagt er schließlich. «Das glaube ich. In der vorzeitlichen Landschaft wurden Grenzen oft durch Einzelbestattungen gekennzeichnet. Denk an die Leichen aus Jütland, um nur ein Beispiel zu nennen.»
Ruth ruft sich die Jütland-Funde in Erinnerung: Eichensärge, die aus dem Wasser geborgen wurden, darin Tote aus der Bronzezeit. Eine junge Frau war dabei gewesen, deren erstaunlich moderne Kleidung Ruth besonders im Gedächtnis geblieben ist: ein geflochtener Minirock und ein bauchfreies Oberteil.
«Was meint denn unser Techno-Freak dazu?», will Erik wissen.
«Er findet, das ist alles nur Zufall. Keinerlei Zusammenhang zwischen der Toten und dem Henge.»
Erik schnaubt verächtlich. «Wie der überhaupt Archäologe werden konnte, ist mir schleierhaft! Begreift er denn nicht, dass ein Ort, der den Menschen aus der Stein- und Bronzezeit heilig war, auch denen aus der Eisenzeit noch heilig gewesen sein muss? Es geht doch um die Landschaft selbst. Das hier ist ein Schwellengebiet zwischen Land und Wasser, es liegt doch auf der Hand, dass es bedeutsam ist.»
«Uns heute bedeutet es aber nicht mehr so viel.»
«Ach nein? Immerhin gehört es dem National Trustund ist ein Naturschutzgebiet. Ist das nicht unsere Art, etwas für heilig zu erklären?»
Ruth denkt an die Mitglieder des National Trust, stämmige Damen in Steppjacken, die vor den Toren von Schlössern Andenken verkaufen. Nicht gerade das, was sie sich unter «heilig» vorstellt. Dann fällt ihr David ein, der ihr von den Zugvögeln erzählt hat. Er, das wird ihr jetzt klar, hält diesen Ort tatsächlich für etwas Besonderes.
Erik bleibt unvermittelt stehen und starrt auf den Boden, der plötzlich dunkler und schlammiger geworden ist. Mit seinem eleganten Schuh zieht er eine Furche in den Sand. Darunter kommt überraschend eine bläuliche Schicht zum Vorschein. «Brandrückstände», erklärt er. «Die Wurzeln uralter Bäume. Jetzt ist es nicht mehr weit.»
Als Ruth sich umdreht, sieht sie in der Ferne ein paar Bäume und die Spitze eines Kirchturms. An diesen Blick erinnert sie sich noch ganz genau; sie sind tatsächlich in der Nähe des Henge-Rings. Doch der Sand, grau im Wintersonnenlicht, verrät nichts.
Was der Sand packt, behält er für immer.
Sie sieht den Henge noch vor sich an jenem Sommerabend vor zehn Jahren, diesen Kreis aus knorrigen, hölzernen Pfählen, unheimlich und fremd, als wäre er geradewegs aus dem Meer emporgestiegen. Sie erinnert sich, wie Erik vor den Pfählen niederkniete, fast, als würde er beten. Und sie erinnert sich, wie sie selbst am ganzen Körper erschauerte, als sie zum ersten Mal in den Kreis trat.
«Hier ist es», sagt Erik.
Man erkennt nichts, bis auf einen etwas erhabenen Kreis, der etwas dunkler wirkt als der Sand ringsum, doch Erik verhält
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