Totenpfad
zwei kleine Mädchen umgebracht, und vielleicht hat er auch Ihre Katze so zugerichtet. In jedem Fall müssen Sie aber sehr vorsichtig sein. Da versucht jemand, Ihnen Angst zu machen, und auch wenn wir den genauen Grund nicht kennen, können wir doch davon ausgehen, dass es etwas mit dem Fall zu tun hat.»
Ohne ihn anzusehen, fragt Ruth: «Müssen Sie sie mitnehmen? Sparky, meine ich?»
«Ja.» Nelson gibt sich Mühe, aufrichtig zu sein und nicht zu schroff zu klingen. «Wir müssen sie auf Fingerabdrücke und DN A-Spuren untersuchen.»
«Dann ist das also», sagt Ruth mit heller, harter Stimme, «so was wie ein kleiner Durchbruch.»
«Ruth», sagt Nelson. «Sehen Sie mich an.» Sie wendet ihm das Gesicht zu. Es ist vom Weinen ganz verschwollen.
«Es tut mir wirklich leid um Ihre Katze. Um Sparky. Ich hatte früher mal einen Schäferhund, er hieß Max. Ich habe diesen Hund geliebt. Meine Frau sagte manchmal schon, sie wäre richtig eifersüchtig. Als er überfahren wurde, war ich völlig außer mir und wollte den Fahrer wegen Verkehrsgefährdung verklagen, obwohl es gar nicht seine Schuld war. Aber das hier ist möglicherweise ein Mordfall, und Ihre Katze kann uns vielleicht wertvolle Hinweise liefern. Sie wollen doch auch, dass wir herausfinden, was mit Scarlet passiert ist?»
«Ja», sagt Ruth. «Natürlich will ich das.»
«Ich verspreche Ihnen, Ruth, sobald das Labor mit ihrfertig ist, bringe ich Ihnen Sparky zurück, und dann begraben wir sie gemeinsam. Ich werde sogar eine Kerze in der Kirche für sie anzünden. Einverstanden?»
Sie ringt sich unter Tränen ein Lächeln ab. «Einverstanden.»
Nelson hebt Sparky hoch und wickelt sie sorgfältig in die Decke. Auf dem Weg zur Tür dreht er sich noch einmal um. «Ach, und Ruth? Schließen Sie heute unbedingt sorgfältig ab.»
Als er fort ist, setzt Ruth sich aufs Sofa, so weit wie möglich von der Stelle entfernt, wo sich auf dem ausgeblichenen Chintz ein schwacher Blutfleck zeigt. Sie betrachtet die Überreste ihres Imbisses mit Shona und überlegt gleichgültig, wie lange es eigentlich her ist, seit sie dort am Tisch gesessen und über Männer geredet haben. Ihrem Gefühl nach müssen es Tage sein, dabei sind es erst ein paar Stunden. Seither hat sie herausgefunden, dass Nelson ein dunkles Geheimnis hat, sie hat mit ihrem Ex telefoniert und ihre geliebte Katze brutal abgeschlachtet vorgefunden. Ruth bricht in ein leicht hysterisches Lachen aus. Was dieser Abend wohl noch alles bringen wird? Das Coming-out ihrer Mutter als Lesbe? Einen Heiratsantrag von David, dem Vogelwart? Sie steht auf und geht in die Küche, weil sie dringend ein Glas Wein braucht. Flint, der bisher alles aus sicherer Entfernung beäugt hat, kommt zu ihr und streicht ihr um die Beine. Sie nimmt ihn auf den Arm, drückt ihr verweintes Gesicht in sein rötliches Fell. «Ach, Flint», schluchzt sie. «Was sollen wir denn jetzt bloß machen ohne sie?» Flint schnurrt erwartungsvoll. Ruth hat vergessen, ihn zu füttern.
Sie gießt sich ein großes Glas Pinot Grigio ein und schaut zu dem Tisch am Fenster hinüber, wo ihr Laptop immer noch aufgeklappt steht. Als sie eine Taste drückt,erscheint das Vorlesungsskript auf dem Bildschirm. Sie klickt sich rückwärts durch die Seiten ihres Internetbrowsers, bis sie wieder auf der Seite voller Nelsons angekommen ist: der amerikanische Schachgroßmeister, der Physikprofessor, Harry Nilsson und Henry (Harry) Nelson von der Polizei Norfolk. Zerstreut überlegt sie, dass er sich große Mühe gegeben hat, sich wegen Sparky verständnisvoll zu zeigen. Eigentlich muss er doch ganz aus dem Häuschen gewesen sein vor Aufregung darüber, jetzt mögliche Spuren zu haben, und trotzdem hat er versucht, ihre Gefühle zu respektieren. Wahrscheinlich findet er es albern, dass sie sich wegen einer Katze so aufregt, aber das ist ihr egal. Sparky war ihr Haustier, ihre Gefährtin, ihre Freundin … jawohl, Freundin, bekräftigt sie noch einmal trotzig in Gedanken. Sie denkt an die kleine schwarze Katze, die so bezaubernd war, so unabhängig, und die Tränen laufen ihr wieder über die Wangen. Wie kann man denn bloß Sparky umbringen?
Dann wird ihr zum ersten Mal klar, was Nelsons Abschiedsworte bedeuten.
Schließen Sie heute unbedingt sorgfältig ab.
Wer immer Sparky getötet hat, hat vielleicht auch Scarlet und Lucy umgebracht. Möglicherweise hat der Mörder direkt vor Ruths Tür gestanden. Vielleicht hat er auch draußen vor dem Fenster gelauert, mit
Weitere Kostenlose Bücher