Totenpfad
die Bremse und befördert den Wagen dabei fast in den überfluteten Straßengraben.
«Wer ist tot?»
«Sparky.» Ein langes Schweigen, während sie um Fassung ringt. «Meine Katze.»
Nelson zählt ganz langsam bis zehn. «Sie rufen mich an, um mir von Ihrer toten Katze zu erzählen?»
«Man hat ihr die Kehle durchgeschnitten.»
«Was?!»
«Man hat ihr die Kehle durchgeschnitten und sie mir vor die Haustür gelegt.»
«Bin schon unterwegs.»
Nelson wendet mit dem nötigen Höchstmaß an quietschenden Reifen und rast Richtung Salzmoor. Ruths tote Katze könnte eine Botschaft des Entführers sein oder des Briefschreibers, vielleicht auch von allen beiden. Das istgenau die Sorte perverser Aktion, die dem Briefschreiber zuzutrauen wäre. Keine vorschnellen Schlüsse, ruft er sich zur Ordnung, während er einen Lastwagen überholt und das Sprühwasser ihm fast die Sicht nimmt. Aber einer Katze die Kehle durchzuschneiden, das ist eindeutig krank. Vielleicht finden sich ja ein paar DN A-Spuren . Er wird einfühlsam sein müssen («einfühlsam», murmelt er vor sich hin – das Wort hat so einen verweichlichten Kulturjournalisten-Ton, der ihm gar nicht gefällt). Ruth war ziemlich außer sich. Komisch, er hätte gar nicht vermutet, dass sie Haustiere hat.
Als er das Salzmoor erreicht, ist es bereits stockdunkel. Es regnet zwar nicht mehr, aber der Wind ist noch so stark, dass es ihm beim Aussteigen fast die Autotür aus der Hand reißt, und auf dem Weg zum Haus spürt er die volle Kraft des Windes im Rücken, merkt, wie er ihn vor sich her treibt. Großer Gott, wie kann man bloß hier wohnen? Nelson lebt in einem modernen Haus mit sechs Zimmern etwas außerhalb von King’s Lynn, ganz zivilisiert, in einer verkehrsberuhigten Zone, mit Bewegungsmeldern und Doppelgarage. Da merkt man kaum, dass man in Norfolk ist. Ruths Häuschen ist im Grunde nur ein besserer Schuppen, es liegt hier ganz einsam am Rand der Einöde, wo man allenfalls mal einem Vogel-Freak begegnet. Warum in aller Welt wohnt sie hier? Sie muss an ihrer Universität doch ganz gut verdienen.
Ruth öffnet gleich, als hätte sie schon auf ihn gewartet. «Danke, dass Sie gekommen sind», sagt sie schniefend.
Die Haustür führt direkt ins Wohnzimmer, in dem für Nelsons Empfinden ein heilloses Durcheinander herrscht. Überall Bücher und Papiere, eine halb ausgetrunkene Kaffeetasse auf dem Tisch, daneben die Überreste einer Mahlzeit, Brotkrümel und Olivenkerne. Doch dann sieht er nichts mehr von alledem, denn auf dem Sofa liegt derentstellte Kadaver einer kleinen Katze. Ruth hat eine flauschige, rosafarbene Decke darüber gebreitet, und aus irgendeinem Grund schnürt dieser Anblick Nelson für einen Moment die Kehle zu. Er zieht die Decke beiseite.
«Haben Sie ihn angefasst? Den Kadaver?»
«Sie. Es ist ein Katzenmädchen.»
«Haben Sie sie angefasst?», wiederholt Nelson geduldig. «Nur, um sie hier aufs Sofa zu legen. Und dann habe ich sie noch … ein bisschen gestreichelt.» Ruth wendet sich ab.
Nelson streckt die Hand aus, um ihr die Schulter zu tätscheln, doch Ruth macht ein paar Schritte von ihm weg und putzt sich die Nase. Als sie sich wieder zu ihm umdreht, ist ihre Miene halbwegs gefasst.
«Glauben Sie, das war er?», fragt sie. «Der Mörder?»
«Noch haben wir es nicht mit einem Mord zu tun», sagt Nelson behutsam.
Ruth zuckt verzweifelt mit den Achseln. «Wer kann so etwas bloß tun?»
«Ein sehr kranker Mensch, so viel steht fest.» Nelson beugt sich über die leblose Katze. Dann richtet er sich wieder auf. «Weiß irgendwer, dass Sie an den Ermittlungen beteiligt sind?»
«Nein.»
«Ganz sicher nicht?»
«Phil, mein Chef, weiß es natürlich», sagt Ruth zögernd. «Und wahrscheinlich auch noch ein paar andere Kollegen von der Uni. Und meine Nachbarin hat neulich gesehen, wie ich in den Streifenwagen gestiegen bin.»
Nelson wendet sich von Sparky ab, dreht sich noch einmal um und breitet die rosafarbene Decke wieder über den kleinen, toten Körper. Dann berührt er Ruth am Arm und sagt mit erstaunlich sanfter Stimme: «Setzen wir uns doch.»
Ruth lässt sich in einen durchgesessenen Sessel sinken. Sie sieht Nelson nicht an, sondern hält den Blick auf das Fenster mit den zugezogenen Vorhängen gerichtet. Draußen heult nach wie vor der Wind und rüttelt an den Scheiben. Nelson setzt sich auf den Rand des Sofas.
«Ruth», sagt er. «Wir wissen, dass da draußen ein gefährlicher Mensch herumläuft. Er hat möglicherweise
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