Totenpfad
bückt sich, und Ruth hockt sich neben ihn. Und tatsächlich, da ist ein Pfahl, halb versunken im torfigen Boden zwischen Röhricht und Watt. Er ragt etwa zehn Zentimeter aus dem Boden heraus.
«Mooreiche», sagt Erik, und Ruth schaut genauer hin. Das Holz ist dunkel, fast schwarz, und übersät von kleinen Löchern wie von Holzwürmern.
«Mollusken», bemerkt Erik knapp. «Die fressen sich auch durch Holz.»
«Wie alt wird er sein?», fragt Ruth.
«Das kann ich nicht genau sagen. Aber er sieht ziemlich alt aus.»
«So alt wie der Henge?»
«Möglicherweise etwas jünger.»
Ruth streckt die Hand aus und berührt den Pfahl. Er fühlt sich weich an, wie dunkler Karamell, und sie muss sich zusammenreißen, um nicht den Fingernagel hineinzubohren.
«Komm», sagt Erik. «Suchen wir den nächsten.»
Der nächste Pfahl steckt etwa zwei Meter weiter im Boden. Er ist schwerer zu erkennen, weil er fast völlig unter Wasser steht. Erik geht zwischen den beiden Pfählen hin und her.
«Unglaublich. Der Boden dazwischen ist völlig trocken, dabei ist er von beiden Seiten vom Moor umgeben. Das muss eine Kiesbank sein. Nicht zu fassen, dass sie sich in all den Jahren nicht verschoben hat.»
Ruth spürt seine Aufregung. «Dann könnte das also tatsächlich ein Pfad durch das Moor sein?»
«Ja. Ein Übergang. Das Markieren von Übergängen über geheiligten Boden war fast so wichtig wie das Markieren von Grenzen. Ein falscher Schritt, und man ist tot, fährt direkt zur Hölle. Aber wenn man auf dem Pfad bleibt, führt er einen in den Himmel.»
Er lächelt, doch Ruth fröstelt, weil sie an die Briefe denken muss.
Sieh nach dem Himmel, den Sternen, den Übergängen. Sieh nach dem, was sich vor dem Horizont abzeichnet. Du findest sie dort, wo die Erde auf den Himmel trifft.
Wusste der Verfasser etwa von diesem Pfad? Er hat von Dammwegen gesprochen, von einem Cursus. Hat er Lucy hierhergebracht, in diese Einöde?
Insgesamt finden sie zwölf Pfähle, die sie fast bis zurück zum Parkplatz führen und damit an den Ort, wo Ruth die Eisenzeitleiche gefunden hat. Erik macht Fotos und Notizen und ist ganz darauf konzentriert. Ruth hingegen ist unruhig, abgelenkt. Als sie mit Nelson hier war, war sie die Fachfrau. Jetzt fühlt sie sich plötzlich wieder zur Studentin degradiert.
«Wie willst du das Holz datieren lassen?», fragt sie.
«Ich werde Bob Bullmore um Hilfe bitten.» Bob ist ein Kollege aus Ruths Institut, ein sehr erfahrener forensischer Anthropologe und Experte für Zersetzungsprozesse in der Tier- und Pflanzenwelt. Ruth schätzt Bob, es ist eine gute Idee, ihn einzubeziehen – und trotzdem hat sie erneut das Gefühl, übergangen zu werden. Am liebsten würde sie Erik anbrüllen: «Das ist meine Entdeckung! Ohne mich wärst du gar nicht hier!»
«Sollen wir Phil davon erzählen?», fragt sie.
«Einstweilen noch nicht.»
«Es könnte aber sein, dass Bob es ihm sagt.»
«Nicht, wenn ich ihn bitte, es zu lassen.»
«Glaubst du, wir haben hier eine Verbindung zwischen meiner Eisenzeitleiche und dem Henge?»
Erik sieht sie mit hochgezogenen Brauen an. «
Deine
Eisenzeitleiche?»
«Ich habe sie immerhin gefunden», sagt Ruth trotzig.
«Wir besitzen nichts auf dieser Welt», erwidert Erik.
«Du hörst dich schon an wie Cathbad.»
Erik mustert sie einen Augenblick nachdenklich, wie ein Dozent, der versucht, eine neue Studentin einzuschätzen. Dann sagt er: «Du solltest ihn kennenlernen.»
«Wen?»
«Cathbad. Komm mit, dann stelle ich euch mal richtig vor.»
«Was, jetzt?»
«Ja. Ich wollte ohnehin noch bei ihm vorbeischauen.»
Ruth zögert. Die Amateurdetektivin in ihr will Cathbad unbedingt wiedersehen, um sich eine Meinung über ihn zu bilden, ohne dass Nelson mit seiner Voreingenommenheit ihr Urteilsvermögen trübt. Aber sie ist immer noch ein wenig böse auf Erik, weil er ihr nicht erzählt hat, dass er Cathbads Betreuer war. Gefangen in ihrem ganz persönlichenGrenzgebiet zwischen Neugier und Trotz, wägt sie beide Möglichkeiten ab.
Während sie noch nachdenkt und Erik sie neugierig mustert, klingelt ihr Handy und holt sie fast brutal zurück ins einundzwanzigste Jahrhundert.
«Entschuldige.» Ruth wendet sich ab.
«Hallo, Ruth. Hier ist Nelson.»
«Oh … hallo.»
«Haben Sie gerade Zeit? Können Sie nach Spenwell kommen? Jetzt sofort?»
«Warum?»
«Ich bin bei Scarlet Hendersons Eltern. Wir haben Menschenknochen im Garten gefunden.»
12
Spenwell ist ein winzig kleines Dorf, das diese
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