Totenpfad
Bezeichnung eigentlich kaum verdient. Eine einzige Straße mit ein paar Häusern, eine Telefonzelle und ein Laden, der nur nachmittags für zwei Stunden geöffnet hat. Scarlets Eltern bewohnen einen großen Bungalow aus hässlich-braunem Backstein, den auch die Efeuranken nicht schöner machen. Ruth parkt hinter Nelsons Mercedes und zwei Polizeitransportern. In einem so kleinen Ort bleibt ein solches Polizeiaufgebot natürlich nicht unbemerkt. Von der anderen Straßenseite schaut ein Grüppchen Kinder mit großen Augen herüber, und überall in der Straße sieht man Gesichter hinter den Fenstern. Ihre Mienen sind schwer zu deuten: neugierig, verängstigt, schadenfroh.
Als Ruth auf das Haus zugeht, kommt Nelson um die Ecke. Schwere Polizeistiefel haben den Vorgarten zu Matsch zertrampelt. Darüber sind Planken gelegt, vermutlich für eine Schubkarre.
«Hallo, Ruth», begrüßt Nelson sie. «Wie geht es Ihnen denn heute?»
Die Frage ist Ruth ein wenig unangenehm. Heute ist sie wieder die Expertin, da will sie nicht daran erinnert werden, dass sie am Abend zuvor noch bitterlich um ihre tote Katze geweint hat.
«Besser», sagt sie. «Erik … mein früherer Betreuer, Sie wissen schon … ist noch vorbeigekommen, als Sie weg waren.»
In Nelsons Blick liegt eine gewisse Neugier, doch dann sagt er nur: «Gut.»
«Wo sind die Knochen?», fragt Ruth, um das Gespräch wieder auf die Arbeit zu bringen.
«Hinten. Die Hunde haben sie aufgestöbert.»
Der Garten hinter dem Haus ist lang, schmal und ungepflegt. Alte Sofas und kaputte Fahrräder liegen und stehen herum, dazwischen ein halb fertiges Klettergerüst, das allem Anschein nach aus Altholz erbaut wurde. Die Tatortbeamten in ihren weißen Overalls haben sich um ein großes Loch geschart, die Spürhunde zerren schwanzwedelnd an ihren Leinen. Ruth registriert entsetzt, dass auch die Familie Henderson anwesend ist. Scarlets Eltern stehen schweigend an der Hintertür. Die Mutter wirkt noch relativ jung, sehr bleich und hübsch mit ihrem langen, dunklen Haar und dem elfenhaften Gesicht. Sie trägt einen lilafarbenen Samtrock und ist trotz der Kälte barfuß. Der Vater ist älter und erinnert mit seinem hageren Gesicht und den wässrigen Augen entfernt an eine Ratte. Im Garten spielen drei Kinder auf dem halb fertigen Klettergerüst, ohne sich weiter um die Polizisten zu kümmern.
«Das ist Doktor Ruth Galloway», sagt Nelson zu einem der Overallträger. «Unsere Expertin für alte Knochen.» So wie die Hunde, denkt Ruth.
Sie betrachtet das Loch, das genau dort zu verlaufenscheint, wo der Garten der Hendersons an den der Nachbarn stößt. Zum Haus hin steht ein Holzzaun, doch hier, am Ende des Gartens, sieht man nur Feuersteine und anderen Schotter. Eine Grenze, denkt Ruth und hört im Geist Eriks Stimme:
Es war eine Grenzmarkierung. Das hätten wir respektieren sollen
.
«War hier früher mal eine Mauer?», fragt sie. Eigentlich hat sie die Frage an den nächstbesten weißen Overall gerichtet, doch Scarlets Vater hat sie offenbar gehört und kommt näher.
«Da war eine Mauer aus alten Feuersteinen. Ich habe sie vor etwa fünf Jahren abgetragen, um einen Brennofen aus den Steinen zu bauen.»
Wenn hier früher eine Mauer stand, denkt Ruth, dann können die Knochen unmöglich aus unserer Zeit sein. Sie will nicht, dass es Scarlets Knochen sind, das ist ihr selber klar. Sie will nicht, dass diese Eltern ihr Kind ermordet haben. Sie will, dass Scarlet noch am Leben ist.
Die weißen Overalls treten beiseite, und Ruth nähert sich mit dem Rucksack, in dem sie ihr Ausgrabungswerkzeug transportiert. Sie kniet sich vor das Loch, zieht ihren kleinen Spatel hervor und fährt damit an den Rändern entlang. Es wurde sorgfältig gegraben, das sieht sie an den Spatenspuren, und auch der Boden selbst ist in ordentliche Schichten unterteilt, wie eine Pastete. Zuoberst eine dünne Schicht Mutterboden, dann die typische, torfhaltige Erde der Gegend und schließlich eine Schicht Feuerstein. In etwa einem Meter Tiefe sieht Ruth gelblich-weiße Knochen schimmern.
«Haben Sie irgendetwas verändert?», fragt sie.
«Nein», antwortet einer der weißgekleideten Männer. «DCI Nelson meinte, wir sollen noch warten.»
«Sehr gut.»
Ruth streift Handschuhe über, zieht einen Knochen herausund hält ihn gegen das Licht. Sie spürt, dass hinter ihr alle den Atem anhalten.
Nelson beugt sich vor, dicht an ihr Ohr, und Ruth riecht Zigarettenrauch und Aftershave.
«Sind es
Weitere Kostenlose Bücher