Totenpfad
vier Kinder zusammen, die Ehe scheint also zu funktionieren. «Maddie, die Älteste, ist nicht von ihm», sagt sie. «Vielleicht hat sie ihn ja geheiratet, um über etwas anderes hinwegzukommen.»
«Woher wissen Sie das denn?»
«Das hat sie mir erzählt.»
Nelson grinst. «Ich dachte mir schon, dass sie mit Ihnen reden wird.»
«Haben Sie deshalb darauf bestanden, dass wir noch einen Tee mit den beiden trinken?»
«Ich habe doch gar nicht darauf bestanden. Sie haben uns eingeladen.»
«Und Sie haben die Einladung angenommen. In unser beider Namen.»
Nelson grinst wieder. «Tut mir leid. Ich hatte das Gefühl, dass wir was gutzumachen haben. Schließlich haben wir den ganzen Vormittag in ihrem Garten herumgebuddelt und sämtliche Nachbarn aufgescheucht. Sie müssen sich ja wie Verdächtige vorgekommen sein. Da fand ich ein nettes, entspanntes Gespräch gar keine schlechte Idee. Und außerdem dachte ich tatsächlich, dass Delilah Ihnen gegenüber vielleicht offener ist.»
«Offener? In welcher Hinsicht?»
«Ach, was weiß ich», erwidert Nelson betont nonchalant. «Sie machen sich keine Vorstellung davon, was sich so alles als nützlich erweist.»
Ruth überlegt, ob Delilah ihr etwas «Nützliches» erzählt hat. Das meiste war einfach nur furchtbar traurig.
Schließlich sagt sie: «Es war einfach schrecklich anzusehen, wie sehr sie leiden, und ihnen so gar nicht helfen zu können.»
Nelson nickt ernst. «Ja, das ist schrecklich», sagt er. «In solchen Momenten hasse ich meine Arbeit ganz besonders.»
«Es war so traurig zu hören, dass Delilah immer noch im Präsens von Scarlet spricht, obwohl wir doch gar nicht wissen, ob sie noch lebt oder schon tot ist.»
Wieder nickt Nelson. «Das ist der schlimmste Albtraum aller Eltern. Der allerallerschlimmste. Sobald man Kinder hat, wird die ganze Welt plötzlich furchtbar bedrohlich. Jeder Ast, jeder Stein, jedes Auto, jedes Tier und, Herrgott, auch jeder Mensch stellt plötzlich eine schreckliche Gefahr dar. Und man merkt, dass man alles, aber auch wirklich alles tun würde, damit es ihnen gutgeht: stehlen, lügen, töten,ganz egal. Aber manchmal kann man eben gar nichts tun. Das ist das Schreckliche daran.»
Er bricht ab und trinkt einen Schluck Cola. Vielleicht schämt er sich ja, so viel gesagt zu haben. Ruth mustert ihn mit einer gewissen Verwunderung. Sie hat geglaubt, Delilah Hendersons Gefühle nachvollziehen zu können, weil sie ein so wunderschönes Kind wie Scarlet verloren hat, doch es erscheint ihr geradezu unvorstellbar, dass Nelson etwas Ähnliches für die beiden muffligen Teenager empfindet, mit denen sie ihn im Einkaufszentrum gesehen hat. Trotzdem nimmt sie es ihm ab, als sie die Miene sieht, mit der er in sein Colaglas schaut.
Zu Hause, während sie sich halbherzig an die Vorbereitungen für die erste Vorlesung in der nächsten Woche macht, denkt Ruth über Kinder nach. «Haben Sie Kinder?», hat Delilah sie gefragt und ihr damit implizit erklärt: Wenn Sie keine haben, können Sie das auch nicht verstehen. Nelson dagegen kann es verstehen. Er mag ein schnoddriger Polizist aus dem Norden sein, aber er hat Kinder und damit Zugang zu diesem Heiligtum. Er kennt die erschütternde Kraft elterlicher Liebe.
Ruth hat keine Kinder, und sie ist auch niemals schwanger gewesen. Jetzt, wo sie fast vierzig ist und höchstwahrscheinlich kein Kind mehr bekommen wird, erscheint ihr das alles wie reine Verschwendung, die ganze Maschinerie in ihrem Körper, die sie jeden Monat bluten lässt und dafür sorgt, dass sie sich unausgeglichen und aufgeschwemmt fühlt und Unmengen Schokolade in sich hineinstopft. Dieses ganze innere Kanalsystem, all die Rohre, die da vor sich hin glucksen, für nichts und wieder nichts. Shona war wenigstens zweimal schwanger und hat zwei tränenreiche Abtreibungen hinter sich – sie weiß, dass alles funktioniert. Ruth hingegen weiß nicht einmal, ob sie überhaupt schwangerwerden könnte. Vielleicht geht es ja gar nicht, und der ganze Verhütungsstress all die Jahre war völlig umsonst. Sie denkt an das eine Mal mit Peter zurück, als ihnen das Kondom gerissen war und sie im Eifer des Gefechts beschlossen hatten, trotzdem weiterzumachen. Sie weiß noch, wie sie am nächsten Morgen aufwachte und dachte: «Vielleicht war es das ja jetzt. Vielleicht bin ich schwanger.» Allein der Gedanke hatte eine Macht über sie gewonnen, die alles andere in den Hintergrund treten ließ. Das Wissen, dass man heimlich etwas in sich trägt.
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