Totenpfad
an.
«Ich hatte es doch versprochen.» Nelson deutet auf den Karton.
«Ja. Vielen Dank. Kommen Sie rein, ich mache uns einen Kaffee.»
«Kaffee wäre klasse.»
Er stellt den Karton vorsichtig neben dem Sofa ab, und sie versuchen beide, nicht hinzusehen. Ruth beschäftigt sich mit dem Kaffee, Nelson bleibt im Wohnzimmer stehen und schaut sich stirnrunzelnd um. Sie muss daran denken, wie sie ihn in der Universität zum ersten Mal gesehen hat und den Eindruck hatte, als wäre er zu groß für ihr Büro. Hier hat sie einen ganz ähnlichen Eindruck. Mit seiner schweren, schwarzen Jacke lässt Nelson ihr Häuschen schrumpfen. Auch Erik ist groß, scheint aber in der Lage zu sein, sich seiner jeweiligen Umgebung anzupassen. Nelson dagegen sieht aus, als würde er jeden Moment etwas umschmeißen oder sich den Kopf an der Decke stoßen.
«Viele Bücher», bemerkt er, als Ruth mit Kaffee und Keksen auf einem Tablett hereinkommt.
«Ja. Ich lese gern.»
Nelson grunzt. «Meine Frau geht zu so einem Lesezirkel, aber da jammern sie immer nur über ihre Männer. Über Bücher reden sie nie.»
«Woher wissen Sie das?»
«Ich habe gelauscht, als sie sich mal bei uns getroffen haben.»
«Vielleicht haben sie ja über Bücher geredet, als Sie nicht mehr gelauscht haben.»
Diese Möglichkeit räumt Nelson lächelnd ein.
«Haben Sie denn irgendwas herausfinden können?», fragt Ruth. «Durch … durch Sparky?»
Nelson trinkt einen großen Schluck Kaffee und schüttelt den Kopf. «Das wissen wir frühestens morgen. Aber ich habe die Briefe noch einmal testen lassen. Wir gleichen die Fingerabdrücke und DN A-Spuren darauf mit unserer Datenbank bekannter Straftäter ab.»
Ruth überlegt, was ihn wohl auf diese Vorgehensweise gebracht hat. Nelson klingt, als hätte er einen ganz bestimmten «Straftäter» im Sinn. Doch ehe sie fragen kann, stellt Nelson die Kaffeetasse ab und wirft einen Blick auf die Uhr.
«Haben Sie einen Spaten?», fragt er tatendurstig.
Nun, da der Augenblick gekommen ist, verspürt Ruth plötzlich großen Widerwillen dagegen, in den Garten hinauszugehen und Sparky zu begraben. Viel lieber möchte sie hier sitzen bleiben, Kaffee trinken und so tun, als wäre gar nichts Schlimmes geschehen. Aber sie weiß, dass sie es nicht ewig aufschieben kann, und so holt sie ihre Jacke und zeigt Nelson den Geräteschuppen.
Ruths Garten ist ein kleines Viereck aus windzerzaustem Gras. Anfangs, als sie gerade eingezogen war, hat sie noch versucht, das eine oder andere zu pflanzen, aber es war jedes Mal das Falsche, und bis auf Disteln und wilden Lavendel scheint dort nichts gedeihen zu wollen. Die Wochenendfahrernebenan haben eine schicke Terrasse, die sie im Sommer mit Terrakottatöpfen dekorieren. Heute wirkt sie jedoch genauso trostlos und leer wie Ruths Garten. Der von David ist noch deutlich verwilderter, beherbergt aber immerhin ein aufwendiges Vogelhäuschen mit einer Vorrichtung, die Katzen fernhalten soll (was allerdings, wie Ruth befürchtet, nicht allzu gut funktioniert).
Ganz hinten im Garten steht ein Zwergapfelbaum, dort bittet sie Nelson, das Grab auszuheben. Es ist seltsam, jemand anderem beim Graben zuzusehen. Er macht es völlig falsch und bückt sich aus dem Rücken, anstatt in die Knie zu gehen, doch er entledigt sich der Aufgabe trotzdem rasch und effizient. Ruth wirft einen Blick in das sorgsam ausgehobene Loch und geht automatisch die Erdschichten durch: Mutterboden, Schwemmboden, Kalk. Flint hockt mit zuckendem Schwanz im Apfelbaum und beobachtet sie. Nelson gibt Ruth den Pappkarton, der sich herzzerreißend leicht anfühlt. Sie spürt den Drang, noch einmal hineinzuschauen, weiß aber, dass das keine gute Idee wäre. Stattdessen drückt sie einen Kuss auf den Deckel. «Adieu, Sparky.» Dann legt sie den Pappkarton in das Grab.
Ruth holt sich einen zweiten Spaten und hilft Nelson, das Loch wieder zuzuschütten, und ein paar Minuten lang hört man nur ihre angestrengten Atemzüge, während sie die schwere Erde zurückschaufeln. Nelson hat seine Jacke ausgezogen und sie in den Apfelbaum gehängt. Flint hat sich aus dem Staub gemacht.
Als das Loch zugeschüttet ist, sehen Nelson und Ruth einander an. Ruth hat das Gefühl, den therapeutischen Effekt von Begräbnissen verstanden zu haben. Staub zu Staub. Sie hat Sparky begraben, und doch wird ihre Katze immer um sie sein, als Teil des Gartens, als Teil ihres Lebens. Dann fallen ihr die Lucy-Briefe wieder ein.
Lucy liegt
tief unter der Erde, doch
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