Totenpfad
sie wird wieder auferstehen.
Sie schüttelt den Kopf, um den Gedanken loszuwerden.
«Was ist mit der Kerze?», fragt sie Nelson.
«Das mache ich am Sonntag. Und ich werde auch zehn Ave-Maria beten.»
«Nur zehn?»
«Also gut, zwanzig, und noch ein ‹Ehre sei dem Vater›, damit es auch wirkt.»
Lächelnd sehen sie einander über das frische Grab hinweg an. Ruth überlegt, ob sie etwas sagen muss, doch Schweigen fühlt sich richtiger an. Über ihren Köpfen ertönen die Rufe der Wildgänse, und es fängt an zu nieseln.
«Ich sollte jetzt gehen», sagt Nelson, rührt sich aber nicht von der Stelle.
Ruth sieht ihn an. Regentropfen hängen ihr im Haar, und Nelson lächelt, ein merkwürdig liebevolles Lächeln. Ruth will gerade etwas sagen, doch dann ertönt plötzlich eine Stimme, die aus einer anderen Welt, einem anderen Leben zu kommen scheint.
«Ruth! Was machst du denn da draußen?»
Peter.
Nachdem Nelson sich verabschiedet hat, wieder ganz geschäftsmäßig, kocht Ruth ein zweites Mal Kaffee und setzt sich mit Peter an den Tisch.
Gut sieht er aus, findet sie. Er trägt das rötlich blonde Haar kürzer, hat ein paar Kilo abgenommen und ist sogar ein bisschen braun, was so ungewöhnlich ist (eigentlich hat er den typischen blassen Teint eines Rothaarigen), dass es ihn auf geradezu schockierende Weise verändert.
«Gut siehst du aus», sagt Peter.
«Blödsinn», erwidert Ruth unverblümt. Sie weiß schließlich, dass sie völlig ungeschminkt und ihr Haar vom Regen ganz kraus ist.
Einen Moment lang schweigen sie beide.
«Wer war der Kerl nochmal genau?», fragt Peter.
«Das ist eine lange Geschichte», antwortet Ruth.
Peter ist ein guter Zuhörer. Er reagiert angemessen entsetzt auf die Nachricht von Sparkys Tod – er mochte die Katzen, das weiß sie noch – und angemessen fasziniert, als er von den Eisenzeitleichen und dem Dammweg hört. Ein wenig erzählt sie ihm auch von den Ermittlungen, ohne allerdings die Briefe zu erwähnen, und er erwidert, dass er über Scarlet Henderson gelesen habe.
«Die arme Kleine. Wie schrecklich für die Eltern. Glaubt die Polizei denn wirklich, dass der Mörder Sparky getötet haben könnte, um dir zu drohen?»
«Sie halten es zumindest nicht für unmöglich.»
«Meine Güte, Ruth. Du hast vielleicht ein Leben.»
Ruth erwidert nichts darauf. Sie glaubt, einen Anflug von Neid auf ihr ach so aufregendes Leben in Peters Stimme zu hören, und würde ihm am liebsten sagen, dass sie es alles andere als aufregend findet, sondern sich im Gegenteil einsam fühlt und recht verängstigt. Schweigend mustert sie ihn und überlegt, wie ehrlich sie sein will.
Es ist seltsam, Peter wieder im Haus zu haben. Ein Jahr lang haben sie gemeinsam hier gewohnt. Ruth hat das Häuschen ein paar Jahre nach der Henge-Ausgrabung gekauft, weil das Salzmoor mit seiner unheimlichen, öden Schönheit sie immer noch faszinierte. Damals lebte sie bereits seit zwei Jahren mit Peter zusammen, und sie hatten darüber gesprochen, es vielleicht gemeinsam zu kaufen. Ruth war dagegen gewesen, obwohl sie damals gar nicht recht wusste, weshalb, und Peter hatte ihr ihren Willen gelassen. So gehörte das kleine Haus ihr ganz allein, und sie erinnert sich noch gut, dass es kaum Notiz davon zu nehmen schien, als Peter auszog. Es gab zwar ein paar leere Stellen an den Wänden und in den Bücherregalen, dochalles in allem hatte sie den Eindruck, als kämen das Haus und sie besser allein zurecht.
Peter schaut zum Fenster hinaus. «Ich habe das alles hier vermisst.»
«Im Ernst?»
«Ja. Wenn man in London lebt, kriegt man fast nie den Himmel zu sehen. Aber hier ist so viel Himmel.»
Ruth schaut hinaus auf den unwetterdräuenden, eisengrauen Horizont, wo die tiefhängenden Wolken einander über das Sumpfland jagen.
«Ziemlich viel Himmel», bestätigt sie. «Aber sonst kaum etwas.»
«Mir gefällt’s», sagt Peter. «Ich schätze die Einsamkeit.»
«Ich auch», sagt Ruth.
Peter sieht mit trauriger Miene in seine Kaffeetasse. «Arme kleine Sparky», sagt er. «Ich weiß noch, wie wir sie damals bekommen haben. Sie war kaum größer als die Quietschmaus, die wir ihr gekauft hatten.»
Ruth erträgt das alles nicht mehr. «Los, komm», sagt sie. «Wir machen einen Spaziergang. Ich zeige dir den Dammweg.»
Der Wind ist stärker geworden, sie müssen den Kopf gesenkt halten, um keinen Sand in die Augen zu bekommen. Wäre es nach Ruth gegangen, hätten sie auch schweigend dahinstapfen können, doch
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