Totenpfad
die Lucy-Briefe lassen ihre Gedanken nicht zur Ruhe kommen. Dieselben Sätze, immer und immer wieder.
Du suchst nach Lucy, doch du suchst sie am falschen Ort … Sieh dorthin, wo sich das Land erstreckt. Sieh nach dem Cursus und dem Dammweg.
Ruth reibt sich die Augen. Flint springt auf den Tisch und schmiegt seinen Kopf an ihre Hand, und sie streichelt ihn zerstreut. Sie übersieht etwas, das weiß sie genau. Es ist, als hätte sie sämtliche Funde einer Ausgrabung beisammen,alle Keramikscherben und Feuersteinsplitter, alle Bodenproben, ohne sie zu einem großen Ganzen zusammensetzen zu können. Wie sagte Erik noch?
Das Entscheidende ist die Ausrichtung.
Ruth breitet die Karte des nördlichen Norfolk vor sich aus. Sie zieht eine Verbindungslinie von Spenwell, wo sie die Knochen im Garten der Hendersons entdeckt haben, bis zu dem Fundort der ersten Toten am Rand des Salzmoors – und schnappt nach Luft. Die Linie, die quer durch das Dorf Spenwell und über die Schnellstraße verläuft, ist eine fast perfekte Gerade. Mit zitternden Fingern verfolgt sie die Linie weiter über die Strecke, die der Dammweg markiert. Es ist genau so, wie sie insgeheim immer vermutet hat: Die Gerade deutet, zielsicher wie ein Pfeil, auf die Mitte des Henge-Rings. Den heiligen Boden.
Sie wirft einen Blick auf ihre Vorlesungsnotizen. Unter der Überschrift «Cursus» hat sie geschrieben: «Lässt sich auch als Gerade interpretieren, die auf heilige Orte hinweist. Längster Cursus in Großbritannien: 10 km . Blickachsen – lenken die Blickrichtung.»
Das Haus wartet immer noch, es ist inzwischen dunkel draußen, und selbst die Vögel schweigen. Mit bebenden Händen greift Ruth nach dem Telefonhörer.
«Nelson? Ich glaube, ich weiß, wo Scarlet begraben liegt.»
16
Sie warten die Ebbe ab und brechen auf, als es hell wird. Nachdem sie den Henge-Ring wieder verlassen haben, mit der toten Scarlet in einem Leichensack der Polizei, wird Ruth nach Hause gebracht. Sie lässt Nelson auf dem Parkplatz zurück, dort, wo sie die ersten Knochen gefundenhaben. Er wartet auf eine Kollegin, die ihn zu Scarlets Eltern begleiten soll, um ihnen die Nachricht zu überbringen. Ruth bietet nicht an mitzukommen. Natürlich ist das reine Feigheit, doch im Augenblick würde sie sich eindeutig lieber in die Fluten stürzen und ertrinken, als Delilah Henderson unter die Augen zu treten. Nelson geht es vermutlich ähnlich, aber ihm bleibt nichts anderes übrig. Er spricht weder mit Ruth noch mit den Tatortbeamten, die nun in ihren weißen Overalls eintreffen. Er hält sich abseits und blickt so finster und abweisend, dass ihm keiner zu nahe kommt.
Auf dem Heimweg bittet Ruth den Fahrer anzuhalten, weil sie sich übergeben muss. Zu Hause, als sie die Radionachrichten hört, muss sie sich gleich noch einmal übergeben. «Auf der Suche nach der vierjährigen Scarlet Henderson hat die Polizei eine Leiche gefunden, bei der es sich vermutlich um das vermisste Mädchen handelt. Unbestätigten Berichten zufolge …» Das vermisste Mädchen. Wie können diese wenigen Worte die schmerzliche, schreckliche Wahrheit ausdrücken, den Anblick dieses kleinen Arms mit dem silbernen Taufarmband um das Handgelenk beschreiben? Ein kleines Mädchen, das den Menschen, die es geliebt haben, entrissen wurde: ermordet, im Sand verscharrt, verborgen unter dem Meer. Wann hat er sie dort begraben? Nachts? Wenn Ruth aus dem Fenster geschaut hätte, hätte sie dann den Lichtschein gesehen, der sie wie ein Irrlicht zu dem toten Kind geführt hätte?
Sie ruft Phil an und sagt ihm, dass sie heute nicht kommen wird. Er platzt fast vor Neugier, denkt aber immerhin noch daran, Mitgefühl für Scarlets Eltern zu äußern: «Die armen Leute, man will es sich gar nicht vorstellen.» Doch Ruth muss es sich vorstellen, den ganzen Tag über. Zehn Minuten später ruft Peter an. Ob er vorbeikommen soll? Sielehnt ab, sagt, es gehe ihr gut. Sie will Peter nicht sehen – sie will überhaupt niemanden sehen.
Gegen Mittag wimmelt es auf dem Salzmoor von Menschen. Es hat wieder angefangen zu regnen, trotzdem sieht Ruth die kleinen Gestalten über den Sand krabbeln und in der Ferne die Scheinwerfer der Polizeischiffe auf dem Meer. Ein Schwarm Journalisten zieht draußen vorbei, schnatternd und kreischend wie die Zugvögel. Ruth sieht David vor seinem Haus stehen, mit finsterer Miene und einem Fernglas in der Hand. Vermutlich findet er diese Invasion seines Salzmoors furchtbar. Die Vögel haben sich
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