Totenpfad
gehört, und eines Morgens stand er einfach da, mit Ruck- und Schlafsack im Gepäck, und fragte, ob sie Hilfe bräuchten. Sie hatten ihn immer als Großstadtgewächs bezeichnet, obwohl er ursprünglich aus Wiltshire stammte und fünf Jahre im australischen Busch verbracht hatte. Sie machten sich über den Strohhut lustig, den er trug, um seine helle Haut vor der Sonne zu schützen, und darüber, dass er so wenige archäologische Fachbegriffe kannte. Das Pleistozän bezeichnete er standhaft als «Plastozin», und er konnte sich auch nie merken, was nun früher war, die Bronzezeit oder die Eisenzeit. Doch der Henge faszinierte ihn, und er lauschte gebannt Eriks Vorträgen über Rituale und Opfer. Und schließlich hatte er den ersten Eichenpfahl entdeckt, der freigelegt worden war, nachdem ein Sommersturm den Sand verweht hatte. Peter hatte völlig selbstvergessen rund um den Pfahl gegraben, als er von der Flut überrascht und von Erik gerettet worden war.
An jenem Abend, das weiß Ruth noch genau, war ihr klargeworden, dass sie sich in Peter verliebt hatte. Sie waren die ganze Zeit schon gut miteinander ausgekommen, hatten oft zusammen gegraben und konnten über dieselben Dinge lachen. Magda, Eriks Frau, hatte es längst bemerkt und sorgte von da an häufig dafür, dass sie miteinanderallein blieben. Sie las Ruth aus der Hand und prophezeite ihr, ein hochgewachsener, rothaariger Fremder werde in ihr Leben treten. Einmal hatte Ruth sich geschnitten, Peter half ihr, die Wunde zu verbinden, und sie erbebte unter seiner Berührung. Und als sie am Abend des Tages, an dem er fast ertrunken wäre, um das Lagerfeuer saßen, sah Ruth ihn an und dachte: Jetzt. Jetzt muss es geschehen. Er wäre heute fast ertrunken, wir dürfen keine Zeit mehr verlieren. Sie weiß noch, wie sie in sich hineinlächeln musste, weil das so ein gewichtiger und doch so freudiger Gedanke war. Peter hatte aufgeschaut und war ihrem Blick begegnet, dann stand er auf und schlug ihr vor, noch einen Spaziergang zu machen und Meerfenchel zu sammeln. Magda hielt die anderen davon ab, sie zu begleiten. Sie waren bis ans Meer gegangen, wo die Wellen in der Dunkelheit rauschten, und hatten einander lächelnd umarmt.
Jetzt, als Ruth die Tür zu ihrem Häuschen aufschließt, fragt sie sich, ob sie Peter wirklich wieder in ihrem Leben haben will. Seit dem Spaziergang am Sonntag hat er zweimal angerufen, doch sie hat ihn nicht wiedergesehen. Er wohnt nicht weit weg, sie könnte ihn einfach anrufen und ihn fragen, ob er heute Abend etwas mit ihr trinken geht, doch sie weiß, dass sie das nicht tun wird. Sie ist sich nicht sicher, was er mit «zurück» meint. Zurück zu ihr? Und falls das so ist: Will sie das selber auch? Will sie allen Ernstes wieder mit ihm zusammen sein, wo sie es doch war, die die Beziehung nach endlosem Erforschen ihres Herzens beendet hat? Und warum zieht dieser neue, leicht verbitterte Peter sie so viel mehr an als der, der sie vor fünf Jahren angehimmelt hat?
Im Haus tickt trübsinnig eine Uhr, und vom Moor kommen die Rufe der Seevögel herüber. Sonst ist alles still. Ruth zuckt zusammen, als Flint, der sich ohne Sparkymerklich unwohl fühlt, von der Sofalehne springt. Die Stille hat etwas Bedrohliches, als würde das Haus auf etwas warten. Als Ruth in die Küche geht, um Flint zu füttern, hallen ihre Schritte auf den Bodendielen. Das Radio ist auch keine Hilfe – der Empfang ist so schlecht an diesem Tag, dass sie nur ein dumpfes Krächzen hört, als wäre der Sprecher gefesselt und geknebelt und versuchte verzweifelt, freizukommen. Das macht sie so nervös, dass sie den Apparat wieder ausschaltet und die Stille noch schwerer lastet als zuvor.
Ruth macht sich einen Tee und setzt sich vor den Rechner, um ein bisschen zu arbeiten. Doch sie spürt die Stille immer noch im Rücken, bis sich ihr die Nackenhaare sträuben. Sie fährt herum. Flint liegt inzwischen wieder auf dem Sofa, doch er schläft nicht. Er ist wach und aufmerksam und schaut an ihr vorbei zum Fenster, hinaus in die Dämmerung. Ob dort draußen etwas ist? Ruth nimmt ihren ganzen Mut zusammen, geht zur Tür und reißt sie mit einigem Getöse auf. Nichts. Nur die kreisenden, kreischenden Seevögel, die immer weiter landeinwärts fliegen. In der Ferne hört sie das Meer rauschen. Die Flut hat eingesetzt.
Ruth lässt die Tür wieder zufallen und legt nach kurzem Zögern die Kette vor. Dann schließt sie die Vorhänge und versucht, sich auf die Arbeit zu konzentrieren.
Doch
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