Totenpfad
ergeben, wann Scarlet tatsächlich getötet wurde, doch Ruth betet, dass es bald geschehen ist, als sie nochfröhlich war vom Spiel mit ihren Brüdern, als sie noch nichts ahnte.
Draußen ist es inzwischen ganz dunkel. Ruth gießt sich ein weiteres Glas Wein ein. Das Telefon klingelt, sie greift seufzend nach dem Hörer. Peter? Erik? Ihre Mutter?
«Spreche ich mit Doktor Ruth Galloway?» Eine fremde, leicht atemlose Stimme.
«Ja.»
«Ich schreibe für den
Chronicle
.» Die örtliche Tageszeitung. «Wie ich höre, waren Sie am Auffinden der Leiche von Scarlet Henderson beteiligt?»
«Ich habe nichts dazu zu sagen.» Mit zitternden Händen knallt Ruth den Hörer auf die Gabel. Als es gleich darauf erneut klingelt, steckt sie das Telefon aus.
Flint kommt geräuschvoll durch die Katzenklappe herein und erschreckt Ruth zu Tode. Sie gibt ihm sein Futter und versucht danach, ihn dazu zu bringen, auf ihrem Schoß liegen zu bleiben. Doch er wirkt ebenso nervös wie sie und schleicht mit gesenktem Kopf und bebenden Schnurrhaaren durchs Zimmer.
Inzwischen ist es neun Uhr. Ruth ist seit vier auf den Beinen, sie fühlt sich völlig erschöpft, ist aber zu unruhig, um ins Bett zu gehen. Sie möchte auch nicht lesen oder fernsehen. So bleibt sie einfach im Dunkeln sitzen, beobachtet Flint bei seinen Streifzügen durch den Raum und lauscht dem Regen, der an die Scheiben hämmert.
Gegen zehn klopft es vernehmlich an die Tür. Flint flüchtet erschrocken nach oben, und Ruth zittert am ganzen Körper, obwohl sie gar nicht recht weiß, warum. Sie macht Licht und geht auf Zehenspitzen zur Tür. Die besonnene Archäologin in ihr weiß, dass es vermutlich nur Peter ist oder Erik oder Shona (die sich erstaunlicherweise bisher noch nicht gemeldet hat). Doch weil sie schon den ganzen Tag nervös und unruhig ist, glaubt sie jetzt festdaran, dass da draußen vor der Tür etwas Furchtbares lauert, irgendein dem Schlamm und dem Sand entstiegenes Grauen.
Was der Sand packt, behält er für immer.
«Wer ist da?», ruft sie und bemüht sich, ihre Stimme fest klingen zu lassen.
«Ich bin’s. Nelson.»
Ruth öffnet die Tür.
Nelson sieht furchtbar aus, er ist unrasiert, hat gerötete Augen, und seine Kleider sind vom Regen durchweicht. Ohne ein Wort kommt er ins Wohnzimmer und setzt sich auf das Sofa. Es erscheint Ruth ganz selbstverständlich, dass er da ist.
«Wollen Sie etwas trinken?», fragt Ruth. «Tee? Kaffee? Wein?»
«Einen Kaffee, bitte.»
Als sie mit dem Kaffee zurückkommt, sitzt Nelson vorgebeugt auf dem Sofa und hat das Gesicht in den Händen vergraben. Ruth bemerkt das Grau in seinem dichten, dunklen Haar. Er kann doch unmöglich in den paar Wochen so gealtert sein?
Sie stellt die Kaffeetasse vor ihm auf den Tisch. «War’s schlimm?», fragt sie behutsam.
Nelson stöhnt und reibt sich mit beiden Händen das Gesicht. Dann sagt er: «Ja, sehr schlimm. Delilah … sie ist … einfach zusammengeklappt, als hätte man alles Leben aus ihr rausgequetscht. Sie ist einfach zusammengebrochen, und dann lag sie da, ganz zusammengerollt, und hat geweint und Scarlets Namen gerufen. Nichts, was wir sagen konnten, hat etwas geholfen. Wie auch? Ihr Mann hat versucht, sie in den Arm zu nehmen, aber sie hat ihn abgewehrt. Judy, meine Kollegin, hat sich große Mühe gegeben, aber was konnte sie schon tun? Großer Gott. Ich habe wirklich schon viele schlechte Nachrichten überbracht in meinem Leben, aber so was habe ich noch nichterlebt. Wenn ich morgen zur Hölle fahre, kann es kaum schlimmer sein.»
Er schweigt und starrt stirnrunzelnd in die Kaffeetasse. Ruth legt ihm die Hand auf den Arm, sagt aber nichts. Was soll man auch sagen?
Schließlich spricht Nelson weiter. «Ich weiß nicht, wie sie überhaupt glauben konnte, dass Scarlet noch am Leben ist. Nach zwei Monaten … wir haben doch alle gewusst, dass sie tot sein muss. So wie bei Lucy. Man gibt einfach nach und nach die Hoffnung auf. Aber Delilah, das arme Ding … sie hat tatsächlich geglaubt, ihr Kind kommt eines Tages wieder zur Tür hereinspaziert. Anfangs hat sie immer wiederholt: ‹Sie kann nicht tot sein, sie kann doch nicht tot sein.› Ich musste ihr sagen, dass ich sie selbst gesehen habe. Und dann musste ich sie auch noch bitten, die Leiche zu identifizieren.»
«Alle beide?»
«Ich wollte, dass Alan allein geht, aber Delilah wollte unbedingt mitkommen. Ich glaube, sie hat noch bis zum letzten Moment gehofft, dass es doch nicht Scarlet ist. Und als
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