Totenpfad
ängstlich verzogen, der Himmel dräut düster und wolkenverhangen. Zum Glück sind Sammy und Ed wieder in London, sodass Ruth ihre neugierigen Fragen nicht auch noch ertragen muss. Sie zieht die Vorhänge zu. Sie kann von Glück sagen, dass die Journalisten noch nicht auf sie gekommen sind.
Dann ruft Erik an. Er klingt versöhnlich und besorgt, doch Ruth wäre wohler, wenn sie nicht die ganze Zeit denken müsste, dass ihm die Ausgrabungsstätte mindestens so wichtig ist wie Scarlets Schicksal. Immerhin führt die Polizei ihre undisziplinierten Grabungen jetzt mitten im Henge-Ring durch. Für Erik (ganz ähnlich wie für David) ist der Ort damit dauerhaft ruiniert. Das kann er Ruth natürlich schlecht sagen, und so legt er rasch wieder auf, nachdem er ein paar Gemeinplätze über die «schreckliche Geschichte» abgesondert hat.
Trotz alledem ist sie immer noch geschockt, als sie den Fernseher einschaltet, um Nachrichten zu sehen, und ihr regendurchweichtes, graues Salzmoor auf dem Bildschirm sieht. «An diesem gottverlassenen Ort», kommentiert der Nachrichtensprecher mit Grabesstimme, «hat die Polizei heute am frühen Morgen ihre traurige Entdeckung gemacht …» Ruth wird auch hier nicht erwähnt. Danke, lieber Gott.
Das Telefon klingelt. Ruths Mutter. Keine gute Idee, lieber Gott.
«Ruth! Dieser schreckliche Ort, wo du wohnst, ist im Fernsehen!»
«Ich weiß, Mum.»
«Jetzt haben sie das arme kleine Mädchen also gefunden. Wir haben in der Bibelgruppe jeden Abend für es gebetet.»
«Ja, das kann ich mir denken.»
«Vater sagt, auf TV AM hätten sie auch dein Haus gezeigt.»
«Bestimmt.»
«Ist das nicht eine furchtbare Geschichte? Vater sagt, du sollst unbedingt alle Türen und Fenster gut verschließen.»
«Mach ich.»
«Das arme Kind. So ein hübsches kleines Ding. Hast du das Foto in den Nachrichten gesehen?»
Soll Ruth ihrer Mutter erzählen, dass sie die Leiche selbst gefunden hat? Dass sie den kleinen, vom Torfboden bewahrten Arm aus dem Boden geborgen und das silberne Armband mit den ineinander verschlungenen Herzen betrachtet hat? Soll sie ihrer Mutter erzählen, dass ihr das gleiche Armband an Delilah Hendersons Handgelenk aufgefallen war, als sie bei ihr in der Küche saß? Soll sie ihr sagen, dass sie zugeschaut hat, als der kleine, tote Körper aus seinem Grab gehoben wurde, dass sie gesehen hat, wie die kleine Hand herabbaumelte, als wollte sie ihr zum Abschied zuwinken? Soll sie ihrer Mutter erzählen, dass sie den Mörder kennt, auch wenn sie seinen Namen nicht weiß, dass seine Stimme sie bis in ihre Träume verfolgt? Soll sie ihr von Sparky erzählen, die blutüberströmt vor der Haustür lag, eine Drohung oder eine Warnung?
Nein, sie wird ihr nichts davon erzählen. Stattdessen versprichtsie, ihre Tür gut abzuschließen und morgen wieder anzurufen. Sie ist sogar zu erschöpft, um noch eine Diskussion anzufangen, als ihre Mutter die Hoffnung äußert, dass die Kleine getauft sei und jetzt in den Himmel kommen könne.
Sonst lautet Ruths Standardantwort auf solche Bemerkungen immer: «Wer will schon in den Himmel? Da sind doch lauter Christen.» Aber jetzt muss sie an Alan und Delilah Henderson denken. Ob sie wohl glauben, dass sie Scarlet wiedersehen, an einem besseren Ort wieder bei ihr sein werden? Ruth hofft es für sie. Sie hofft es wirklich sehr.
Es regnet ununterbrochen, sehr zum Leidwesen der Reporter, die jetzt über die New Road zurückgestapft kommen und frustriert ihre Handys zuklappen. Ruth hat den ganzen Tag noch nichts gegessen; jetzt holt sie sich ein Glas Wein und schaltet das Radio ein. «Was sagt der Tod der kleinen Scarlet Henderson über unsere Gesellschaft aus …» Ruth schaltet das Radio wieder aus. Sie hat keine Lust, sich anzuhören, wie irgendwelche Leute, die Scarlet nicht einmal kannten, etwas über Lektionen labern, die daraus zu ziehen sind, über den Verfall der Sitten oder die Gründe, warum Kinder nicht mehr gefahrlos draußen spielen können. Scarlet ist der Gefahr zum Opfer gefallen: Sie wurde aus dem Garten ihrer Eltern geraubt, wo sie mit ihren Brüdern, den Zwillingen, auf dem improvisierten Klettergerüst spielte. Keiner der beiden Jungen hat etwas bemerkt. Im einen Moment war Scarlet noch da, im nächsten war sie verschwunden. Delilah, die drinnen mit der knatschigen Ocean beschäftigt war, hat erst bemerkt, dass ihre Tochter verschwunden ist, als sie die Kinder zum Abendessen hereinrief. Zwei Stunden später. Die Obduktion wird
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