Totenpfad
sie dann die Leiche gesehen hat, da ist sie wieder zusammengebrochen.»
«Weiß man schon, wie lange … wie lange sie tot ist?»
«Nein. Dafür müssen wir den Obduktionsbericht abwarten.» Er reibt sich seufzend die Augen und findet dann, zum ersten Mal an diesem Abend, seinen professionellen Polizistenton wieder: «Sie sah ja zumindest nicht aus, als ob sie schon lange tot ist, oder?»
«Das ist der Torf», sagt Ruth. «Der ist gewissermaßen ein natürliches Konservierungsmittel.»
Wieder schweigen sie beide und hängen ihren eigenen Gedanken nach. Ruth denkt an den Torfboden, der das Holz des Henge erhalten hat und nun ein weiteres Geheimnis preisgeben musste. Angenommen, sie hätten sienie gefunden: Hätte Scarlet dann Hunderte, Tausende von Jahren dort gelegen, so wie das tote Mädchen aus der Eisenzeit, um irgendwann von ein paar Archäologen gefunden zu werden, die sie als akademische Sensation gewertet hätten, ohne ihre wahre Geschichte zu kennen?
Nelson bricht das Schweigen. «Ich habe wieder einen Brief bekommen», sagt er.
«Was?»
Statt einer Antwort zieht Nelson ein knittriges Blatt Papier aus der Tasche. «Das ist nur eine Kopie», sagt er. «Das Original ist bei der Spurensicherung.»
Ruth beugt sich vor und liest:
Nelson,
du suchst und findest doch nicht. Du siehst nur Knochen, wo du Fleisch zu finden hoffst. Alles Fleisch ist Gras, das habe ich dir schon einmal gesagt. Langsam habe ich genug von deiner Einfalt, deiner Unfähigkeit zu sehen. Muss ich dir etwa erst eine Karte zeichnen? Dir eine Linie ziehen, die dich zu Lucy und Scarlet führt?
Je näher dem Bein, je süßer das Fleisch. Vergiss die Knochen nicht.
In Trauer.
Ruth sieht Nelson an. «Wann haben Sie den bekommen?»
«Heute, mit der Post. Er wurde gestern eingeworfen.»
«Als Cathbad schon in Haft war.»
«Ja.» Nelson hebt den Kopf. «Das heißt aber nicht, dass er das nicht irgendwie arrangiert haben kann.»
«Glauben Sie das wirklich?»
«Es könnte zumindest sein. Oder aber dieser Brief stammt von jemand anderem.»
«Er liest sich wie die übrigen.» Ruth betrachtet das kopierteBlatt. «Das Bibelzitat, der ganze Ton, der Verweis auf die Fähigkeit zu sehen. Und hier steht ja sogar: ‹Das habe ich dir schon einmal gesagt.›»
«Ja, das ist mir auch aufgefallen. Klingt wie ein etwas sehr krampfhafter Versuch, eine Verbindung zu den anderen Briefen herzustellen.»
Ruth liest noch einmal den Satz:
Dir eine Linie ziehen, die dich zu Lucy und Scarlet führt
. Sie muss daran denken, wie sie selbst am Abend zuvor auf der Karte den Weg von den Knochen in Spenwell über die Leiche am Rand des Moors bis in die Mitte des Henge-Rings nachgezeichnet hat, und erschauert. Es ist fast, als hätte der Briefschreiber ihr über die Schulter geschaut und zugesehen, wie sie eine Linie zu Scarlet zog. Und dann die Knochen.
Vergiss die Knochen nicht.
Dieser Brief spricht auffallend viel von Knochen. Ihr Fachgebiet. Will der Verfasser ihr vielleicht etwas mitteilen?
«‹Je näher dem Bein, je süßer das Fleisch›», liest sie laut vor. «Das klingt richtig kannibalistisch.»
«Es ist ein Sprichwort», sagt Nelson. «Ich hab’s nachgeschlagen.»
«Sie glauben also immer noch, dass es Cathbad war?»
Nelson seufzt auf und fährt sich mit beiden Händen durchs Haar, sodass es wie ein Hahnenkamm zu Berge steht. «Ich weiß auch nicht. Für eine Anklage habe ich jedenfalls nicht genug in der Hand. Keine DN A-Spuren , kein Motiv, kein Geständnis. Wir haben seinen ganzen Wohnwagen durchsucht und absolut nichts gefunden. Ich halte ihn jetzt noch so lange fest, bis der Obduktionsbericht da ist. Wenn sich bei Scarlet DNA von ihm findet, ist er geliefert.»
Ruth betrachtet Nelson. Vielleicht ist es das zerzauste Haar, vielleicht auch die zerdrückte Kleidung – auf jeden Fall sieht er jünger aus, fast verletzlich.
«Aber eigentlich glauben Sie nicht, dass er es getan hat?»
Nelson sieht sie an. «Nein», sagt er. «Das glaube ich nicht.»
«Wer war es dann?»
«Wenn ich das nur wüsste.» Nelson seufzt wieder, und es wird fast ein Stöhnen daraus. «Das ist ja gerade das Schlimme, das, wofür ich mich am meisten schäme. All die Ermittlungsstunden, all die Einsatzzeit, die Durchsuchungen und Verhöre, und trotzdem habe ich immer noch keinen blassen Schimmer, wer die beiden kleinen Mädchen umgebracht hat. Kein Wunder, dass die Presse meinen Kopf fordert.»
«Bei mir hat vorhin jemand vom
Chronicle
angerufen.»
«Diese
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