Totenprinz - Westendorf, C: Totenprinz
die Hausbesichtigung vorüber war, würde sie auf der Stelle nachschauen, ob schon Nachrichten in ihrem Posteingang eingetroffen waren.
Werner, ein Mann mit Halbglatze und Schnurrbart, grinste Amanda großflächig vom Bildschirm entgegen. Sein angegebenes Alter, Mitte vierzig, war offensichtlich geschönt, oder aber Werner war durch irgendwelche Umstände frühzeitig gealtert. Nein, nein, das war alles nichts, auf diese Weise würde sie nie einen interessanten Mann kennenlernen. Also meldete sie sich erneut bei »Gute Männer für Sie« an, diesmal allerdings mit ihrem neuen, wunderbaren Benutzernamen. Amanda war zur »Helena« geworden! Jetzt passte alles zusammen, denn auch auf dem Foto, das Amanda von sich ausgewählt hatte, konnte sie locker als eine »Helena« durchgehen.
Sehnsuchtsvolle Frau, 37, sucht einen begeisterungs-
fähigen Mann, der der Mann ihrer Träume
sein will.
Ich bin gespannt,
Helena.
Als die Kommissarin Anna Greve an diesem Abend von der Arbeit nach Hause kam, brannte überall Licht. Mit mehreren Einkaufstüten bepackt, betrat sie den Flur, wo sie als Erstes über drei Paar riesenhafte Turnschuhe stolperte, die mitten im Eingang standen. Geistesgegenwärtig machte Anna einen großen Ausfallschritt zur Seite und verhinderte damit im letzten Moment den drohenden Sturz. Der Weidenkorb an ihrem rechten Arm schaukelte allerdings so stark, dass die zuoberst liegende Flasche feinsten italienischen Olivenöls aus ihm herausrutschte und mit einem lauten Knall auf den Steinfliesen zerbarst. Anna sah zu, wie das Öl aus der zersplitterten Glasflasche herausfloss und sich langsam über den Boden verteilte. Aus dem oberen Stockwerk wurde das Geschehen von lauter Hip-Hop-Musik begleitet.
»Ben, mach sofort die Musik leiser und hilf mir! Ben?«
Keine Antwort, was Anna bei dieser Geräuschkulisse auch nicht sonderlich verwunderte. Sie stellte ihre Einkaufstüten ab, schälte sich aus ihrem dicken Wintermantel heraus und kickte wütend die im Weg herumliegenden Monsterschuhe mit einem ihrer teerverkrusteten Fellstiefel durch den Flur.
Da lugte ein verschlafenes Jungengesicht um die Ecke des Wohnzimmers. Es war Paul, Annas dreizehnjähriger Sohn.
»Was machst du denn da?«
»Frag besser nicht, hilf mir lieber.«
Paul sah sie nur an, nahm die Einkaufstüten und trug sie in die Küche.
»Warum muss sie immer mich anmachen, wenn sie eigentlich auf Ben wütend ist?«, brummelte er vor sich
hin, als Anna im selben Moment ihren Kopf zur Küchentür hereinstreckte.
»Tut mir leid, Kleiner. Danke, dass du das für mich machst.«
Im Badezimmer wusch Anna sich die Hände, nahm ihren Jogginganzug von der Heizung und schlüpfte hinein. Die Musik dröhnte noch immer mit solch ohrenbetäubender Lautstärke aus Bens Zimmer, dass Anna auf ein Klopfen an seiner Zimmertür verzichtete und stattdessen lieber nach unten lief, ihr Handy aus der Tasche nahm und die Nummer ihres älteren Sohnes wählte.
»Ich möchte, dass du auf der Stelle nach unten kommst!«
Sofort wurde die Musik leiser gestellt, und nur wenige Sekunden später stand Ben vor seiner Mutter in der Küche.
»Na, was gibt’s?«
»Musst du die Musik denn immer so laut aufdrehen? Ich habe mir vorher fast die Seele aus dem Leib nach dir gebrüllt.«
»Wie soll ich denn wissen, wann du nach Hause kommst? Außerdem hab ich Besuch, Leo und Karl sind da.«
»Wieso sitzt du noch nicht am Schreibtisch und lernst mit Papa für die Mathearbeit? Wir haben das gestern doch lang und breit besprochen.«
»Weiß ich, Mum, aber kannst du unser Mathegenie vielleicht irgendwo entdecken?«
Richtig, dachte Anna. Der eigentlich Verantwortliche dafür, dass Ben nicht über seinen Büchern saß, war wieder einmal Tom.
»Papa wird bestimmt jede Minute kommen. Du kannst ruhig schon einmal allein anfangen und dir überlegen, wo es hakt. Habt ihr eigentlich schon etwas gegessen?«
»Nee, wie denn? Papa wollte uns doch was kochen.«
»Willst du etwa behaupten, dass du nicht dazu in der Lage bist, dir selbst ein paar Eier in die Pfanne zu hauen? Sonst betonst du schließlich auch bei jeder Gelegenheit, wie erwachsen du bist. Also, sieh zu, dass sich deine Freunde vom Acker machen, und fang endlich zu lernen an.«
Ben schaute seine Mutter ernst an.
»Wenn du wüsstest, worum es da oben gerade geht, würdest du das nicht von mir verlangen.«
»Was auch immer da oben los ist, du machst jetzt sofort, was ich dir sage, verstanden? Über alles andere können wir dann
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