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Totenrache und zehn weitere Erzählungen

Titel: Totenrache und zehn weitere Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Frank
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gestapelten Tischen, und hob den Kopf, als er die leisen Schritte hörte, die sich ihm näherten. Darryl schaute in ein vor Schmerz verzerrtes, beinah entstelltes Gesicht, in dem jede aufgeworfene Fettspalte ein Bett für den Schweiß bildete, der in Strömen floss. Cunninghams Augen funkelten ihn an, und für einen Moment fragte Darryl sich, ob der Wächter ihn überhaupt erkannte. Glaubte er, Fredric sei zurückgekehrt?
    „Du bist es“, schnarrte Cunningham, und Darryl entspannte sich ein wenig. Keuchend richtete der fette Mann sich ein wenig auf. Darryl konnte Blut riechen, und er sah die besudelte blaue Uniform, die hier jeder Wächter trug, und den dunklen Fleck am Boden.
    „Hast du ihn gesehen?“, fragte Cunningham barsch.
    „Wen?“
    „Den Scheißer mein´ ich!“
    „Welchen?“, fragte Darryl geduldig.
    Cunningham grunzte und warf ihm einen öligen Blick zu, in dem durchdringende Geringschätzung lag. „Fredric! Hast du ihn gesehen?“
    „Ja, Fredric ist draußen auf dem Hof.“ Von seinem Zusammenbruch musste Cunningham nichts erfahren. „Miller ist bei ihm.“
    „Für dich immer noch Mr. Miller!“ Der Wärter betastete mit einer Hand vorsichtig die Wunde und zog sie mit einem lang gezogenen Stöhnen wieder zurück, als er sie fand. Die hastige Bewegung brachte den dicken Schlüsselbund zum Klingen, der an einer Gürtelschlaufe baumelte. „Er wollte mich abstechen. Der kleine Bastard wollte mich tatsächlich abstechen.“ Cunningham schüttelte den Kopf, als würde er seinen eigenen Worten misstrauen. Irgendwo im Gebäude donnerte eine Tür ins Schloss; beide, der Wärter und der Häftling, zuckten in brüderlichem Erschrecken zusammen. Eine leise Stimme wehte herüber.
    „Dieser kleine, mit Scheiße beschmierte Bastard!“, zischte Cunningham. Speichel spritzte von seinen aufgeworfenen Lippen, haarscharf an Darryl vorüber. „Da!“ Er deutete zu Boden, wo ein Gegenstand lag: ein Messer, das Fredric sich auf irgendeine Weise besorgt haben musste.
    „Warum hat er das getan?“, fragte Darryl.
    „Das weiß ich doch nicht!“, rief Cunningham unbeherrscht. „Der ist verrückt. Ein Irrer, sag ich dir!“
    „Wenn Sie meinen“, sagte Darryl beiläufig. In seinem Kopf reifte in Sekundenschnelle ein Plan. Er durchzuckte ihn mit der Heftigkeit eines Blitzes, und dennoch gelang es Darryl, ihn sofort als Ganzes zu erfassen und zu verstehen. Wie wenn jemand einen Stempel auf ein weißes Stück Papier drückte: Es gab keinen Anfang und kein Ende in seinen Überlegungen. Allerdings hatte er eine Lektion nun gelernt: Er wusste, dass die Wirklichkeit manchmal ganz und gar anders war, als er sie sich in Gedanken ausmalte, und daher musste Darryl sehr behutsam zu Werke gehen und so fix und lautlos, dass es seinen eigenen Schatten beschämt hätte. Er biss sich auf die Lippen, um ein Grinsen zu unterdrücken, als er darüber nachdachte, wie Cunningham das Wesen der Wirklichkeit umschreiben würde: Die Wirklichkeit war, so würde Cunningham vermutlich sagen, ebenfalls ein kleiner, mit Scheiße beschmierter Bastard.
    „Ganz sicher!“
    „Macht der Ort allein einen nicht schon verrückt, Sir?“
    „Wie meinst du das?“ Cunningham glotzte ihn mit starrem Blick an. Der starke Blutverlust hatte sein verschwitztes Gesicht bleich werden lassen, als wäre ihm ein permanenter Schrecken in die Glieder gefahren. Der Mann war am Ende seiner Kräfte, ausgezerrt und hohlwangig.
    Darryl bewegte sich mit kleinen, tänzelnden Schritten näher an Cunningham heran – an ihn und das Messer, das dort lag. Er sah die Blutspuren auf der matten Klinge. „Ich mein nichts.“ Er zog den rechten Ärmel seines Sweatshirts über die Hand. „Gar nichts, Sir.“ Plötzlich tauchte er ab und fasste nach dem Griff des Messers. Durch die dämmende Schicht des Stoffes, die dazwischen lag und vor verräterischen Spuren schützte, waren seine Finger etwas unbeholfen und hätten die Waffe beinah wieder fallengelassen, aber es gelang ihm, sie zu halten. „Und wenn ich doch was meine, Sir, braucht Sie das nicht mehr zu interessieren.“
    „Was hast du vor?“
    Der Handstreich kam zu schnell, um dem Wächter eine Chance zur Abwehr zu geben. Er schaute den Jungen so arglos an, wie wenn er eine Antwort auf seine Frage erwartete, selbst dann noch, als Darryl sein Werk bereits vollendet hatte. Erst als er die Flut heißen Blutes aus sich heraussprudeln sah, stieß Cunningham ein schmerzerfülltes Krächzen aus.
    Darryl trat einige Schritte

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