Totenreigen
aus
seinem Eingangsfach genommen hatte.
»Wollen Sie sich nicht wenigstens setzen, Herr Lüthje?«, sagte Hoyer
und schob ihm ihren Schreibtischsessel hin.
»Danke, aber hier ist doch ein Platz frei«, sagte Lüthje, setzte
sich hinter Vehrs’ Schreibtisch, ließ sich die Dienstpost von Hoyer
herüberreichen. Er sah sie schweigend durch. Im Zimmer hörte man nur sein
Geraschel mit dem Papier. Im Augenwinkel sah er, wie Vehrs ab und zu beiläufig
aus dem Fenster sah und Hoyer nachdenklich irgendwelche wichtigen
Gedächtnisprotokolle notierte.
Lüthje spürte ihre Unsicherheit und entschloss sich, ihnen später
ein wenig über seinen Kurs zu verraten.
»Sie dürfen sich wieder setzen«, sagte er ohne aufzusehen.
»Aber nicht auf meinen Schreibtisch, das mag ich nämlich nicht so
gern«, sagte Hoyer und sah Vehrs giftig an.
»Nehmen Sie das Fensterbrett, Vehrs«, schlug Lüthje vor.
Vehrs rückte zwei Blumentöpfe beiseite und setzte sich mit Schwung
auf das Fensterbrett.
»Gibt es sonst was Neues?«, fragte Lüthje.
Hoyer und Vehrs holten gleichzeitig Luft und sahen sich unsicher an.
»Vehrs zuerst«, entschied Lüthje amüsiert.
»Im Laboer Seglerhafen liegt ein Motorboot, das Horst Drübbisch gehörte«,
sagte Vehrs. »Der Hafenmeister hat vorhin angerufen. Er hätte gerade von dem
Mord gehört. Die Spurensicherung ist schon unterwegs.«
»Haben die schon Ergebnisse aus dem Drübbisch-Haus?«
»Nichts! Absolut nichts!«, sagte Vehrs trotzig.
»Na ja, die haben ja auch gerade erst ausgepackt im Labor. Was ist
das für ein Motorboot?«, fragte Lüthje.
»Liegt links vor Ihnen«, sagte Hoyer zu Lüthje.
Als Lüthje sich den Zettel griff, sah er, dass Hoyer Vehrs die Zunge
rausstreckte.
»Ein Innenborder, um und bei zweihundertfünfzig PS , Baujahr 2007, circa vier Komma fünf Tonnen«, las
Lüthje laut. »Eine große Achterkabine und Ruderhaus.« Er legte den Zettel
beiseite. »Ich verstehe was von Röhrenradios und, dank unserem
Hobbymeteorologen Malbek, auch vom Wetter. Aber was hat man sich unter diesen
Zahlen vorzustellen? Ich meine, auf einer gedachten Skala von lahme Ente bis
Rakete?«
»Er bezeichnete das Boot als einen Cruiser«, sagte Vehrs. »Das
stärkste Boot, das momentan im Laboer Seglerhafen liegt, sagte der Hafenmeister.«
»Hört sich schnell an. Ermitteln Sie mal, ob der Drübbisch seinen
Liegeplatz in Kiel hatte.«
»Wollte ich gerade machen, als Sie kamen«, sagte Vehrs. »Wann wollen
Sie es sich am Liegeplatz ansehen? Ich frage nur, weil die Laboer Werft es aus
dem Wasser nehmen und auf Trailer in die Halle bei der Wasserschutzpolizei
bringen soll.«
»Sagen Sie denen, dass ich mir den Liegeplatz heute noch ansehe.
Also kann die Werft das Boot gleich morgen abholen«, sagte Lüthje. »Ich habe
mich heute von Frau Drübbisch zum Tee einladen lassen. Ich hab dabei immerhin
herausgehört, dass sie öfter mit Frau Klockemann telefoniert. Auch in der Zeit
der Trennung von ihrem letzten Mann, der sich auf so tragische Weise das Leben
genommen hat, hat die Klockemann ihr mit gutem Rat zur Seite gestanden.« Und zu
Hoyer gewandt: »Frau Klockemann hat mir übrigens versichert, wie nett sie Sie
findet.«
»Weil ich so harmlos aussehe«, antwortete Hoyer.
»Das ist wohl nicht der richtige Ausdruck, was meinen Sie, Vehrs?«,
sagte Lüthje.
»Nach allem, was ich über Frau Klockemann gehört habe, merkt die
genau, wenn ihr jemand die Harmlose nur vorspielt«, sagte Vehrs.
»Solche Frechheiten muss ich mir den ganzen Tag anhören, Herr
Lüthje«, schmollte Hoyer.
»So, Kinder, jetzt ist genug. An die Arbeit!« Lüthje klappte die
Mappe mit dem Papierkrieg zu. »Den Hafenmeister besuch ich.« Und an Hoyer
gerichtet: »Die stark angegilbte Akte, die schon vor Ihnen auf dem Schreibtisch
liegt, sagt mir, dass Sie jemanden in der Archivabteilung um den Finger
gewickelt haben.«
»Richtig, Euer Ehren, die Sache Klockemann senior!« Sie deutete eine
Verbeugung in Richtung Lüthje an.
»Aber fassen Sie sich bitte kurz, Frau Kollegin!«, sagte Lüthje.
»Kein Problem. Friedhofsarbeiter hatten Klockemann senior in einem
tags zuvor frisch ausgehobenen Grab tot aufgefunden. Die Obduktion ergab, dass
er sich ein paar Rippen, ein Bein, das Becken und einen Arm gebrochen hatte.
Das war natürlich nicht die Todesursache. Tagsüber hatte es bei minus drei Grad
geschneit. In der Februarnacht hatte es nach Auskunft des Deutschen
Wetterdienstes noch einen Temperatursturz bis minus zehn Grad gegeben.
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